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Industrieller Aufschwung in den USA:"China lohnt sich nicht mehr"

In den vergangenen 30 Jahren ging es für den Rust Belt nur in eine Richtung: abwärts. Doch jetzt kehren die Jobs in Amerikas alte Industrieregion zurück - sogar aus Asien. Präsident Obama muss hoffen, dass der zarte Aufschwung anhält. Zumindest bis zu den Wahlen im November.

Christian Wernicke, North Canton, Ohio

Harry Toulson hat immer geschuftet. Im Alter von zehn Jahren fing er als Zeitungsbote an, später steuerte er ein Vierteljahrhundert lang Laster durchs Land. Und noch heute, mit 71 Jahren, geht der Mann mit dem verwaschenen Sweatshirt und der grellgelben Baseballkappe viermal die Woche auf Schicht. "Ich werde wohl bis zu meinem Tod arbeiten", sagt Toulson. Der Rentner nestelt mit den Fingern an seiner goldenen Halskette herum, dann grinst er: "Sobald ich aufhöre, würde ich sterben."

Nur, wirklich leben kann Harry auch nicht. Nicht von dem jedenfalls, was ihm die Firma Edenpur dafür zahlt, dass er hinten in der großen Fabrikhalle, ganz am Ende der Fertigungsreihe, so um die 4000 Mal am Tag einen Heizlüfter auf den Rücken wuchtet, ein kleines Kabel justiert und dann eine elektronische Schalttafel auf dem Gerät montiert. 7,70 Dollar pro Stunde bekommt Harry, die Summe von netto 249 Dollar steht auf dem Scheck, den er jede Woche bekommt. Sieben Dollar und siebzig Cents, umgerechnet nicht einmal sechs Euro, sind hier in Ohio, dem US-Bundesstaat mitten im sogenannten industriellen Herzland Amerikas, der gesetzliche Mindestlohn.

Zwei wöchentliche Schecks gehen allein für die Miete drauf. "Aber ich komme zurecht", beteuert Toulson, er habe ja noch seine Rente. 996 Dollar im Monat, nach einem halben Jahrhundert Maloche. "Schlimm dran sind die jungen Kollegen", fügt Harry hinzu und blickt die dreißig Meter lange Tischreihe hinab, an der sehr viele Latinos und einige wenige Schwarze die nächsten Elektroöfen zusammenschrauben. Über ihnen hängt zwischen Stahlträgern eine riesige US-Fahne.

"Wir sind hier stolz auf unsere Jobs", sagt eine Vorarbeiterin. Sie war zwei Jahre arbeitslos, dann kam im vergangenen September Edenpur nach North Canton. Seither malocht die studierte Chemikerin hier, für gerade mal ein Drittel ihres früheren Gehalts. "Besser als nichts."

Hoffnungsschimmer im Rostgürtel

Edenpur gilt als Vorbote eines Trends, ja als Hoffnungsschimmer in Amerikas Rust Belt, im Rostgürtel, wo in den vergangenen 30 Jahren die verarbeitenden Betriebe wie die Fliegen gestorben sind. Edenpur ist in eine jener leeren Hallen gezogen, die einst zu Hoover gehörten, dem weltberühmten Staubsauger-Konzern, der einst von North Canton aus die Welt eroberte und hier vor sechs Jahren elendig Pleite machte.

Von 1979 bis 2009 verloren die USA, die größte Industrienation auf Erden, vier von zehn ihrer Jobs in der Fertigung; weniger als zwölf Millionen Amerikaner (gerade neun Prozent aller Erwerbstätigen) arbeiten heute noch im herstellenden Gewerbe. Allein Ohio verlor zwischen 1999 und 2009 knapp 420.000 Jobs. Jetzt aber scheint es wieder aufwärts zu gehen, sogar aus China kehrt Arbeit zurück.

Wenn Analysten ins Schwärmen geraten

Ohio meldet seit Ende 2009, dem Tiefpunkt der "Großen Rezession", 30.000 neue industrielle Jobs, und in derselben Zeit sind im ganzen Land 350.000 gewerbliche Arbeitsplätze entstanden. Die Analysten der Boston Consulting Group (BCG) geraten geradezu ins Schwärmen: Eine Manufacturing Renaissance, eine veritable Wiedergeburt also, verheißen sie den Vereinigten Staaten, mit bis zu 800.000 neuen industriellen Arbeitsplätzen.

Barack Obama, der Präsident im fernen Washington, muss hoffen, dass dieser zarte Aufschwung anhält. Wenigstens bis November, wenn die Nation wählt. Derweil verbreiten seine republikanischen Herausforderer, die wenige Tage vor ihrer Primary am kommenden Dienstag durch Ohio ziehen, die Blüten dieser potentiellen Re-Industrialisierung würden nicht wegen, sondern trotz Obamas Politik sprießen. Harry Toulson ist es egal. Alle Politiker lügen, sagt er, Wählen gehe er nicht.

Auch Michael Giorgio, der Manager von Edenpur, redet nicht gern über Politik. Aber der schlanke Mann mit dem gepflegten Oberlippenbart kennt die Triebkräfte der Job-Wende sehr genau. Als Finanzexperte von Suarez Corporation Industries (SCI) - jener Holding, zu der Edenpur gehört - rechnet er täglich bis hinters Komma nach, ob der Heizlüfter aus North Canton auch Profit macht. Unterm Strich lautet seine Deutung: Nicht die Politik, sondern der Markt regiert.

2006 hatte SCI die Produktion seines neuen Heizlüfters begonnen - "und wie alle sind wir wie automatisch nach China gegangen". Das Geschäft brummte, die Gewinne flossen. Aber es gab Probleme. Gerüchte über den Diebstahl wertvoller Patente schreckten ab, die Transportkosten stiegen, und wenn ein plötzlicher Wintereinbruch die Nachfrage nach den kleinen Elektroheizern hochtrieb, waren die Geräte aus Fernost nie pünktlich da. Der Dollar schwächelte gegenüber dem Yuan, zudem schossen Chinas Lohnkosten in die Höhe. Giorgio schüttelt den Kopf: "Es lohnte sich nicht mehr."

Edenpur kehrte heim. Und baute um: Nun hat jedes Gerät drei statt sechs Heizbirnen und vierzig statt 191 Schrauben. Das verringerte den Arbeitsanteil an den Stückkosten. "Made in the U.S.A." verkündet nun ein Sticker auf jedem Gerät. Seither ist der Umsatz um zwölf Prozent gestiegen. "Die Leute sind es leid, dass alles aus China kommt", weiß Giorgio.

Nur der warme Winter hat SCI das Geschäft vermasselt, von den mehr als 400 Menschen, die kurz vor Weihnachten in der alten Hoover-Halle arbeiteten, ist derzeit nur eine Stammbelegschaft von 125 Angestellten übrig. Edenpur heuert und feuert nach Marktlage, in den Büchern der Leiharbeitsfirmen stehen genügend Namen ungelernter Arbeitsloser.

Das Reich der Mitte bewegt sich in Richtung Kostenexplosion

Edenpur entspricht exakt dem Szenario, dass die BCG-Experten als Manufacturing Renaissance skizziert haben: Chinas Lohnkosten und der steigende Wechselkurs des Yuan würden das Reich der Mitte im Laufe dieses Jahrzehnts in eine Kostenexplosion treiben - und die Vereinigten Staaten "zu einem der billigsten Standorte in der entwickelten Welt" machen.

Amerikanische Wiedergeburt als Billiglohnland? Michael Giorgio mag die Frage nicht. "Ich spreche ungern von Billiglöhnen, ich rede lieber von wettbewerbsfähigen Löhnen", belehrt er und zuckt mit den Schultern: "Wer bei uns arbeitet, kann genügend zu Essen nach Hause bringen." Niemand werde gezwungen, bei ihm anzufangen - "und es kann halt nicht jeder Präsident werden."

Das sieht Jim Repace ganz anders. Selbstverständlich, schließlich ist der 63-jährige Frührentner ein eingefleischter Gewerkschafter, Mitglied einer in Ohio langsam aussterbenden Spezies also. "Edenpur sollte sich schämen, die zahlen Löhne, mit denen man weder in Würde leben noch sterben kann", schimpft Repace beim Gespräch im Kellerbüro der Trade Union.

Ein Hauch von Nostalgie durchzieht den Raum, wenn Repace von früher erzählt. Davon, wie die Hoover-Werke einst boomten mit 3500 Arbeitsplätzen im Ort. "Das waren anständige Jobs", schwärmt Repace. Im Akkord konnte mancher, der fleißig und geschickt war, damals glatt 25 oder 30 Dollar die Stunde machen. Plus Krankenversicherung, Betriebsrente und Betriebsfest im Park. Davon dürfen Edenpurs Tagelöhner nicht einmal träumen.

Zeugnisse von der Glorie der Staubsauger-Ära

Vor sechs Jahren hat Jim Repace als Betriebsrat versucht, Hoover vor dem Konkurs zu bewahren. Er wollte den Traditionsbetrieb mit der Belegschaft aufkaufen, und ein kurzes Wochenende lang schien es, als würde der Coup gelingen. Aber dann hat doch ein Konzern aus China den Zuschlag erhalten.

Von der Glorie der Staubsauger-Ära zeugen die alten Klinkerbauten im Stadtzentrum und der rote Schornstein, auf dem noch immer der Name des untergegangenen Weltkonzerns prangt. Draußen am Stadtrand steht ein ödes Warenlager, das Hoovers Ersatzteile in den USA vertreibt. 120 Angestellte sind übrig geblieben, der Lohn pendelt um die 13 Dollar. Die Staubsauger kommen aus Mexiko. Und, noch jedenfalls, aus China.

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SZ vom 02.03.2012/feko
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