Martin Aleida ist so erregt, als wäre alles erst gestern geschehen. Seine Stimme bebt, seine Hände sausen auf und nieder, aus seinem verzerrten Gesicht spricht Verzweiflung. Der große hagere Mann kann nicht zur Ruhe kommen. Weil das Unrecht, das er als 22-Jähriger erlebt hat, die Qualen und die Erniedrigung, noch immer nicht gesühnt sind. Wie aber muss es erst für jene sein, die noch viel länger weggesperrt waren als Martin Aleida?
Die Verbrechen, um die es geht, liegen jetzt ein halbes Jahrhundert zurück. Und die Indonesier sind noch immer weit davon entfernt, das finsterste Kapitel ihrer Geschichte seit der Unabhängigkeit von den Holländern umfassend aufzuklären. Was damals geschah, zählt zu den größten Massenmorden des 20. Jahrhunderts.
Erzwungene Stille
Nach Schätzungen starben in den Jahren 1965 und 1966 mindestens 500 000 Menschen, vermutlich sehr viel mehr. Das Militär und seine Helfer machten in jenen Monaten Jagd auf Kommunisten - und auf alle, die sie irgendwie als Linke einstuften. Es war der blutige Auftakt zur Diktatur des Generals Suharto, der das Land fortan mehr als drei Jahrzehnte lang eisern beherrschte, bevor ihn schließlich die Volksproteste von 1998 stürzten.
Seither festigt sich die Demokratie im Land mit der größten muslimischen Bevölkerung der Welt. Und doch bricht nur mühsam auf, was der amerikanische Historiker Geoffrey Robinson einmal die "erzwungene Stille" nannte. Die Geschehnisse von 1965 sind allenfalls als grobe Skizze erkennbar, das ganze Ausmaß des Grauens muss erst noch ausgegraben werden. Das ist wörtlich zu nehmen. Denn viele der Toten von damals dürften immer noch in Massengräbern verscharrt liegen, sofern sie nicht über Klippen ins Meer oder von Brücken in Flüsse geworfen wurden.
Martin Aleida hat überlebt. Irgendwann, nach einem Jahr im Internierungslager, ließen sie ihn laufen. Warum, kann er nicht sagen. Auch das nagt an ihm. Warum hat er überlebt, wo doch so viele andere sterben mussten? Womöglich kamen die Offiziere zu dem Schluss, dass er nicht zum Kern der kommunistischen Bewegung gehörte. Aber das galt für viele andere Opfer auch.
Martin Aleida wurde verraten - von einem Jugendfreund
Sie wurden gefoltert, getötet oder jahrzehntelang auf fernen Inseln interniert. Aleida hatte danach keine Freude mehr, die Leute schnitten ihn, schließlich nahm er einen neuen Namen an. Aber das Gefühl, ein geschundener Bürger zweiter Klasse zu sein, hat er nie verloren.
Angefangen hatte es am 30. September 1965. Damals wurden unter bisher ungeklärten Umständen bei einem angeblichen Putschversuch sechs Generäle entführt und getötet. Es regierte der erste Präsident Indonesiens, Sukarno. Doch ihm entglitt zunehmend die Kontrolle über sein Land. Der versuchte Coup wurde der kommunistischen Partei angelastet, und ein General namens Suharto übernahm das Kommando. In kurzer Zeit weitete sich die Kommunistenjagd über viele Inseln aus. Dem Militär standen Milizen in den Dörfern zur Seite. Was immer Regierungen des Westens damals davon wussten - es schien niemanden zu kümmern.
Und Martin Aleida? Er schrieb damals als junger Reporter für eine linke Zeitung, er versteckte sich, als die Jagd begann. Dann entdeckte ihn ein alter Jugendfreund. Es war kein freudiges Wiedersehen, sondern der schlimmste Moment in Aleidas Leben. "Da stand dieser Freund und ich konnte es nicht fassen: Er hat mich an die Armee ausgeliefert." Immer wieder kommt Aleida auf den Verrat zu sprechen. Er hat ihn nie verwunden.