Süddeutsche Zeitung

Indonesien:Aufstand gegen die Tugendwächter

Tausende gehen auf die Straße, um gegen Einschränkungen ihrer Freiheit und den laschen Kampf gegen die Korruption zu protestieren. Präsident Joko Widodo riskiert seinen Ruf als Reformer.

Von Arne Perras, Singapur

Tausende Studenten sind diese Woche protestierend durch die Straßen von Jakarta gezogen, dabei heizte sich die Stimmung gefährlich auf, Steine und Molotowcocktails flogen in Richtung der Polizisten, die ihrerseits mit Wasserwerfern und Tränengasgranaten auf Demonstranten schossen. Hunderte wurden verletzt. Seit den Unruhen in der Endphase der Suharto-Diktatur 1998 hat es nur wenige Proteste dieses Ausmaßes im Vielvölkerstaat Indonesien gegeben.

Die Studenten sind aufgebracht, weil das Parlament gerade beschlossen hat, die Antikorruptionsbehörde KPK zu entmachten. Sie befürchten, dass sich Oligarchen auf diese Weise Ermittlungen entziehen können. Die Demonstranten fordern von Präsident Joko Widodo, er solle irgendwie dafür sorgen, dass die KPK wieder Zähne bekommt. Der Frust über Korruptionssünder, die straflos ausgehen, ist in Indonesien groß, der Staatschef kann die Kritik nur schwer ignorieren, will er nicht seine Glaubwürdigkeit als Reformer verlieren.

Kompliziert wird die Lage durch Vorwürfe der Regierung und der Polizei, dass sich gewaltbereite Kräfte unter die Demonstranten mischten und eine Eskalation provozierten. In dieser unübersichtlichen Lage wird es für den Präsidenten immer schwieriger, einen Weg aus der Krise zu finden. Seine politischen Rivalen sehen offenbar Chancen, im Windschatten der Studentenbewegung zu agieren und die Stimmung durch Gewaltakte auf der Straße anzuheizen. Für die Studenten, die in Jakarta und anderen Städten auf die Straße gehen, sind eingesickerte, mit Steinen und Brandsätzen bewaffnete Randalierer ein schwer zu kontrollierender Faktor, der ihrer Sache mehr schadet als nützt. Die meisten wollen friedlich demonstrieren und dafür weitere Gruppen aus der Arbeiterschaft und der Mittelschicht mobilisieren.

Doch es ist nicht nur der Frust über die grassierende Korruption, der sie antreibt. Sie laufen auch Sturm gegen die Pläne, ein verschärftes Strafrecht zu beschließen. Besonders irritiert sie das Vorhaben, vorehelichen Sex in ihrem Land zu kriminalisieren und mit Gefängnis zu bestrafen. Sollte das Gesetz das Parlament passieren, könnte dies auch den Tourismus treffen. Denn die geplanten Regeln gelten nach Aussage von Rechtsexperten für Indonesier wie für Ausländer. Der australische Staat hat bereits Warnungen in seine Reisehinweise aufgenommen, auch wenn das neue Recht erst zwei Jahre nach Beschluss in Kraft tritt.

Es herrscht Verunsicherung in diesen Tagen, der Hotelverband auf Bali etwa veröffentlichte hastig einen Appell, dass Touristen jetzt keinesfalls in Panik verfallen müssten, sie sollten ihre Reisen ganz entspannt weiterplanen wie bisher. Doch der Aufruf schien nur zu bestätigen, dass die Tourismusbranche in heller Aufregung ist angesichts der fragwürdigen Pläne aus der Hauptstadt Jakarta.

Das neue Strafrechtspaket vertieft die gesellschaftlichen Gräben im Land mit der größten muslimischen Bevölkerung weltweit. Liberale Kräfte, die sich vor allem in den Städten konzentrieren, versuchen, die Tradition der Toleranz zu erhalten, sie kämpfen dafür, dass in ihrer noch jungen Demokratie freiheitliche Rechte geschützt werden. Konservative religiöse Kreise wollen den Staat jedoch als strengen Tugendwächter in Stellung bringen, etwa durch die Kriminalisierung von Paaren, die ohne Trauschein zusammenleben.

"Das ist ein massiver Eingriff in mein Privatleben und meine Freiheit", sagt Qory Dellasera aus Jakarta. Auch sie hat demonstriert und lässt ihrer Empörung freien Lauf. "Es gibt viele Leute, die sich schon aus ökonomischen Gründen eine Wohnung oder auch ein Zimmer mit anderen teilen müssen", sagt die 37-Jährige. "Will der Staat etwa behaupten, dass all diese Leute Sex miteinander haben?" Und selbst wenn es so wäre: Sittenwächter, die Schlafzimmer überwachen, das macht ihr Angst. Wohngemeinschaften, wie sie Millionen Indonesier praktizieren, würden so staatlich geächtet. Gerade in den Städten gibt es viele junge Paare wie in Europa, die zusammenleben, ohne gleich zu heiraten.

Plakat eines Demonstranten

"Wenn ich zu einem Date gehe, will ich nicht die Polizei fürchten müssen."

Bilder von den Demos verbreiteten sich über die sozialen Medien ins ganze Land, Aktivisten wollen die Proteste fortsetzen. Ein junger Mann hat sich ein Schild gemalt, auf dem zu lesen ist: "Wenn ich zu einem Date gehe, will ich nicht die Polizei fürchten." Eine Gruppe junger Musliminnen, die Kopftuch tragen, hält ein Plakat mit dem Satz hoch: "Sex geht die Regierung nichts an." Präsident Widodo hat angesichts der Widerstände einen Aufschub der Abstimmung durchgesetzt, aber damit kann er die Gegner nicht versöhnen. Sie kämpfen dafür, das Paket zu kippen.

Jeder Dorfchef kann eine Anklage gegen einen Bewohner seiner Gemeinde anschieben, allerdings muss dafür eine Beschwerde über vorehelichen Sex vorliegen, sei es durch ein Elternteil, einen Partner oder ein Kind des mutmaßlichen Gesetzesbrechers. Kritiker fürchten, dass diese Form der Kriminalisierung selbsternannte Sittenwächter mobilisieren wird, die schon auf bloße Gerüchte hin eigenmächtige Razzien und Hetzjagden auf Menschen starten, die sich dem Diktat angeblich nicht beugen wollen.

Der Bürgerrechtler Anggara, der wie viele Indonesier nur einen Namen trägt, formuliert seine Kritik so: "Dies ist der Versuch, unsere Vorstellungen von Sittlichkeit und Moral staatlich zu manipulieren und zu kontrollieren." Anggara, Leiter des Institute for Criminal Justice Reform (ICJR), verweist auf die verheerende Strahlkraft der Scharia-Gesetze in der Region Aceh. Dort werden Ehebrecher und Homosexuelle öffentlich ausgepeitscht, was auch religiöse Hardliner in anderen Teilen Indonesiens durchsetzen möchten. Das schürt Ängste unter Minderheiten und liberal ausgerichteten Indonesiern.

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Quelle:
SZ vom 28.09.2019
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