Manuprakash Malik, 52, spricht nicht, er schreit. Die zwei Dutzend Männer, die um ihn herumstehen, unterbrechen ihn immer wieder, sie wollen alle ihre eigenen Geschichten erzählen. "Ich wollte Polizist werden", brüllt Malik. "Aber ich hatte das Geld nicht, um den Job zu bekommen." Allein deshalb seien andere Bewerber zum Zuge gekommen. Alles sei käuflich, auch die Stelle eines Polizisten. Der Farmer Malik beackert weiter sein Feld, um die Frau und die fünf Kinder zu ernähren.
Einen Ruhetag kennt er eigentlich nicht, aber an diesem Sonntag hat er sich ausnahmsweise freigenommen und ist die 40 Kilometer aus Faridabad in die Hauptstadt Delhi gekommen. Denn er wollte den Mann persönlich sehen, der derzeit ein ganzes Land in Atem hält.
"Jetzt gibt es Hoffnung auf eine bessere Zukunft für die Menschen in Indien", sagt Malik nun sanfter und dreht sich zur Bühne im Ramlila-Maidan-Park um. Dort liegt Anna Hazare auf ein paar weiße Kissen gebettet. Ab und an richtet der Mann sich auf, faltet die Hände vor der Brust und grüßt ohne Worte die 10.000 Menschen, die gekommen sind.
Der 74-jährige Aktivist braucht nicht zu reden, um die Masse zum Jubeln zu bringen. Sein Hungerstreik für ein wirksameres Gesetz gegen Korruption überstrahlt in Indien derzeit alles. Der unscheinbare Mann ist zum Star geworden. Die Sender übertragen stundenlang live von der Kundgebung, auf der Musikgruppen spielen und Mitstreiter Hazares die Politik auffordern, endlich zu liefern, was alle wollen.
Fanutensilien mit "Ich bin Anna"-Schriftzug
Ginge es nach Hazare, sollten Minister, Abgeordnete und Beamte in Indien von einer unabhängigen Behörde hart bestraft werden, wenn sie sich schmieren lassen. Der Gedanke, dass die Mächtigen, von denen nicht wenige ungeniert in die eigene Tasche wirtschaften, endlich für ihre Fehltritte zur Rechenschaft gezogen werden, elektrisiert Menschen wie Manuprakash Malik. Wie bei einem Rock-Konzert fahren Kamerakräne durch das Meer jubelnder Menschen, die Hazare und auch sich selbst feiern. Die Demonstranten tragen Gandhi-Kappen wie Hazare, auf den Fanutensilien steht der Schriftzug: "Ich bin Anna."
Aber nicht nur im Auftreten und der Kleidung gibt sich der Aktivist als moralischer Nachfahre Mahatma Gandhis, der die Briten einst vom Subkontinent vertrieben hat - mit Hilfe von Hungerstreiks. An die Stelle der damaligen Kolonialherren als Indiens Hauptproblem ist aus Hazares Sicht die korrupte Machtelite des Landes getreten. Wer die Analogie nicht gleich versteht, muss nur einen Blick auf die Bühne werfen. Hinter Anna Hazare hängt das überlebensgroße, schwarz-weiße Porträt Gandhis. Eine Handvoll Männer in weißen Kitteln hat sich gerade um den Fastenden versammelt, um seinen Gesundheitszustand zu überprüfen.
"Ich habe die Entscheidung meines Lebens getroffen", hat Hazare über seinen Protest gesagt. Wenn das Parlament kein hartes Gesetz gegen Korruption zu Stande bringe, werde er seinen Streik fortsetzen, "bis zum letzten Atemzug". Die Staatsmacht könne alles versuchen, um ihn zu stoppen, nichts werde ihn aufhalten. "Wenn sie uns verhaften, werden wir es ohne Gegenwehr hinnehmen, wenn sie Knüppel und Munition einsetzen, werden wir glücklich unser Leben beenden, aber wir werden nicht weichen."
Premier Manmohan Singh und seine Minister reagieren wie in einem Lehrstück, das den Titel "Hilflos in Delhi" tragen müsste. Erst haben die Behörden den Aktivisten verhaftet - auf Anweisung von ganz oben, wie es in den Zeitungen heißt. Denn die Koalition, die selbst in Korruptionsaffären verstrickt ist, hat Angst vor der Massenwirkung des bekanntesten Aktivisten Indiens. Als der Protest anschwoll, sollte Hazare schnell aus dem Gefängnis kommen, unter der Auflage, den angekündigten Hungerstreik abzublasen. Der Aufwiegler drehte den Spieß um: Er blieb freiwillig hinter Gittern und begann dort seinen Hungerstreik - bis die Behörden kapitulierten.
Am Freitag trat dann ein bescheiden wirkender Mann vor die Haftanstalt. Tausende Anhänger hatten auf diesen Moment gewartet. Anna Hazare stieg auf einen Laster, bekam eine indische Flagge in die Hand gedrückt, die er unter dem Jubel der Masse wedelte. Er trat seinen Triumphzug zum Ramlila-Maidan Park an. Regierungschef Singh hatte Hazares Auftreten da längst als unverantwortlich gebrandmarkt, die Regierung lasse sich nicht erpressen.
Inzwischen sagt der Premier kleinlaut, alle wollten doch ein wirksames Gesetz, um die Korruption zu bekämpfen. Einer seiner Minister allerdings, der anonym bleiben will, setzt im Nachrichtenmagazin India Today nicht auf einen Kompromiss mit Hazare, sondern darauf, dass dessen Kräfte bald schwinden. Schließlich sei der Aktivist in einem Alter, "in dem er in drei bis vier Tagen im Krankenhaus sein wird", wenn er nichts esse.
Die Anhänger Hazares wie der Bauer Manuprakash Malik reagieren wütend auf solche Sätze. Sie sehen darin die Arroganz von Politikern, die den Willen des Volkes nicht umsetzen wollen. Die Regierung und Abgeordneten hätten einen triftigen Grund, kein wirksames Anti-Korruptions-Gesetz zu verabschieden. "90 Prozent von ihnen müssten ins Gefängnis, wenn eine striktere Regelung in Kraft treten würde."
Ganz Indien müsse sich ändern, jeder Einzelne
Jetzt will endlich Maliks Nebenmann reden, der sich die ganze Zeit zurückhalten musste, um den Bauern nicht zu unterbrechen. Der in der Technikbranche angestellte Naveen Joshi findet, es werde mehr brauchen, als ein einzelnes Gesetz zu verabschieden, das Politikern, Beamten und Richtern das Fürchten lehren soll. Ganz Indien müsse sich ändern, jeder Einzelne. Denn Korruption ist "Tag für Tag ein Teil, der uns begleitet", sagt der 30-Jährige. Wer die Stromrechnung bezahlen wolle, einen neuen Pass beantrage oder den Führerschein verlängern ließe, müsse Extra-Rupien bereithalten. "In Behörden kann man von ganz oben bis ganz unten immer an jemanden geraten, der Geld verlangt, aber auch in der Geschäftswelt", sagt Joshi.
Genauso sei es bei der Vergabe von prestigeträchtigen Schul- oder Studienplätzen, dann fielen "Gebühren" oder "Spenden" an, die nichts anderes als Schmiergelder seien, ruft ein Lehrer dazwischen. Auf die Frage, ob es so etwas auch an seiner Schule gebe, sagt er zunächst: "Da ist alles nicht so schlimm." Dann gesteht er ein: "Auch bei uns gibt es Korruption."
Manuprakash Malik glaubt denn auch nicht an schnelle Erfolge im Kampf gegen den Filz. Allerdings habe Hazare einen Prozess in Gang gesetzt, der nicht mehr zu stoppen sei. Selbst wenn das Schlimmste eintreten sollte und der Aktivist sich zu Tode hungere: "Mit ihm wird das Thema nicht sterben, ein anderer Anführer wird folgen, der seinen Weg fortsetzen wird", sagt der Bauer. Dann macht er sich auf den Weg zurück nach Hause, nach Faridabad.