Nachruf:Indiens König wider Willen

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Manmohan Singh, hier 2010 bei einem EU-Indien-Gipfel in Brüssel. (Foto: Thierry Roge/REUTERS)

Manmohan Singh war der Architekt des Aufstiegs Indiens zu einer Wirtschaftsmacht. Der ehemalige Premierminister ist nun im Alter von 92 Jahren gestorben.

Von David Pfeifer, Bangkok

Es gibt diese Politikerinnen und Politiker, die eine Ära prägen, auch weil es ihnen mehr um ihr Land geht als um sich selbst. Ein solcher Politiker war Manmohan Singh, Indiens Premierminister von 2004 bis 2014, der am Donnerstagabend im Alter von 92 Jahren gestorben ist. Am Freitag sind die Zeitungen und Fernsehkanäle in Indien gefüllt mit Nachrufen auf den Mann, der Indiens Aufstieg zu einer Wirtschaftsmacht möglich gemacht und damit Millionen Inderinnen und Indern aus der Armut geholfen hat.

Singh stand nicht nur für eine andere politische Ära, sondern für einen bewegten Teil der indischen Geschichte. Er wurde 1932 als eines von zehn Kindern in eine arme Sikh-Familie in dem kleinen Dorf Gah geboren, das in dem Teil Britisch-Indiens lag, der nach der Teilung zu Pakistan wurde. Seine Eltern kämpften sich 1947 während der ethnischen Unruhen, die Tausenden Menschen das Leben kosteten, in die bei den Sikhs heilige Stadt Amritsar durch.

1991 rettete er das Land als Finanzminister - und verschwand wieder im Schatten

Der 14-jährige Manmohan Singh war so entschlossen zu studieren, dass er nachts unter Straßenlaternen lernte, um dem Lärm im Haus zu entgehen. Er schaffte es, ein Stipendium für Cambridge zu bekommen, in Oxford machte er seinen Doktor mit einer Arbeit über die Rolle von Exporten und Freihandel für die indische Wirtschaft. Diese Kompetenz sollte sich später als wichtig erweisen, nicht nur für ihn, sondern für das ganze riesige Land.

Nach seinem Studium wurde Singh unter anderem Gouverneur der indischen Zentralbank und Berater der Regierung, er hatte aber keine Absicht, eine politische Karriere zu machen. 1991 wurde er überraschend zum Finanzminister berufen. Indien steckte in einer massiven Wirtschaftskrise und war am Rande der Zahlungsunfähigkeit. Die Währungsreserven des Landes reichten kaum aus, um Importe für zwei Wochen zu bezahlen.

„Keine Macht der Welt kann eine Idee aufhalten, deren Zeit gekommen ist“, sagte er in seiner ersten Haushaltsrede, ein Zitat von Victor Hugo. „Der Aufstieg Indiens zu einer bedeutenden Wirtschaftsmacht in der Welt ist eine solche Idee.“ Singh leitete Reformen ein, die das wirtschaftlich abgeschottete Land für die Welt öffneten. Er wertete die Rupie ab, um die Exporte anzukurbeln, und senkte die Steuern. Diese damals äußerst mutigen Maßnahmen führten zu einem raschen Wachstum und ebneten den Weg für den heutigen Boom. Danach verschwand Singh wie eine echte Heldenfigur wieder im Schatten.

Er war als Sikh der erste Nicht-Hindu an der Spitze einer indischen Regierung: Sonia Gandhi führte die Kongresspartei 2004 zum Wahlsieg, bat aber Manmohan Singh, Premierminister zu werden. (Foto: B Mathur/REUTERS)

Nur um 2004 ins noch grellere Licht geschoben zu werden. Sonia Gandhi, Witwe des ehemaligen Premierministers Rajiv Gandhi, hatte eine Koalition unter Führung der Kongresspartei zu einem überraschenden Sieg geführt. Da sie aber gebürtige Italienerin ist, bat sie Singh an ihrer Stelle, Premierminister zu werden. Sie fürchtete, dass sich sonst die bei der Wahl unterlegene hindunationalistische Bharatiya-Janata-Partei (BJP) an ihr abarbeiten würde. So wurde Singh auch zur Symbolfigur einer inklusiven Politik, als erster Nicht-Hindu im Amt des Premierministers, stets mit einem himmelblauen Turban, meist über einem einfachen, weißen Kurta-Hemd.

Als Premierminister führte Singh Indien in eine Phase des Wirtschaftswachstums, die bis heute anhält. Er brachte Wohlfahrts- und Beschäftigungsprogramme für die arme Landbevölkerung durch und verhandelte im Jahr 2008 das zivile Atomabkommen mit den USA, das Indiens nukleare Isolation beendete und es der Atommacht ermöglichte, mit Kernenergie zu handeln. Weitere Reformpläne Singhs wurden von seiner Regierungskoalition torpediert.

Indiens Premier Narendra Modi erweist dem verstorbenen Singh in Delhi die Ehre. Aber der heutige Regierungschef verkörpert in vielem das Gegenteil dessen, wofür Singh stand. (Foto: Indisches Presseinformationsamt/AP)

Während Singh international gefeiert wurde, war er zu Hause darauf angewiesen, dass Sonia Gandhi die Regierung zusammenhielt. Singh, der für seinen einfachen Lebensstil bekannt war, geriet unter Beschuss, als er nach einer Reihe von massiven Korruptionsskandalen nicht gegen Mitglieder seiner Regierung vorging. In den letzten Jahren seiner Amtszeit geriet sogar die indische Wachstumsstory, die er erst möglich gemacht hatte, ins Taumeln, da die schlechte Weltwirtschaft und die schleppende Entscheidungsfindung der Regierung die Investitionsbereitschaft beeinträchtigten.

Zwei Jahre später wurde die BJP wiedergewählt, die versprach, den wirtschaftlichen Stillstand und die Korruption in der Politik zu beenden und vor allem mit einem stramm hindunationalistischen Kurs Wählerinnen und Wähler fangen konnte. Premierminister Narendra Modi hält sich bis heute an der Macht und inszeniert sich mittlerweile als Vertreter von Gott Rama auf Erden; er verkörpert damit das genaue Gegenteil von Singh, der es immer vermeiden wollte, im Rampenlicht zu stehen.

„Ich glaube ehrlich gesagt, dass die Geschichte freundlicher zu mir sein wird als die heutigen Medien oder die Oppositionsparteien im Parlament“, sagte Singh auf einer Pressekonferenz kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Amt des Premierministers. In einer Erklärung des Krankenhauses, in das er am Freitag eingeliefert worden war, hieß es, er sei an „altersbedingten medizinischen Problemen“ gestorben. Er hinterlässt eine Frau und drei Töchter. Die Regierung kündigte sieben Tage Trauer und ein Staatsbegräbnis für Singh an.

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