Der Dienstag startete mit einer Enttäuschung, für den erfolgsverwöhnten indischen Premierminister Narendra Modi. Nach Auszählung der Stimmen im bevölkerungsreichsten Bundesstaat Uttar Pradesh hatte seine „Bharatiya Janata“-Partei (BJP) in einem ihrer Kernländer Sitze abgeben müssen. Das war überraschend, um es zurückhaltend zu formulieren, denn Modi hatte das Ziel „400 Sitze“ ausgegeben, bevor die „größten demokratischen Wahlen der Welt“ am 19. April starteten. Als die ersten Wahlprognosen dann am Samstagabend auf den großen Nachrichtenportalen bekannt gegeben wurden, sah es so aus, als wäre die BJP mit ihrer „National Democratic Alliance“ (NDA) nah an dieses Ziel gekommen. Es wäre ein Erdrutschsieg geworden.
Nach Auszählung fast aller Stimmen ergibt sich nun allerdings ein anderes Bild. Die NDA kann demnach die 272 Sitze für eine einfache Mehrheit nicht erreichen. Das Oppositionsbündnis INDIA, unter der Führung der Kongress-Partei und mit dem Spitzenkandidaten Rahul Gandhi, liegt deutlich höher als erwartet. Endgültig verkündet werden die Zahlen erst am Mittwoch. Obwohl die NDA deutlich unter dem Ergebnis von 2019 bleibt, kann sie also weiter regieren, ist aber geschwächt. Und da Modi diesen Wahlkampf komplett auf seine Person zugeschnitten hat, da sein Gesicht landesweit plakatiert war und das Programm der BJP „Modi ist die Garantie“ lautete, wird vor allem er persönlich dieses Ergebnis vertreten müssen.
Die indischen Börsen gaben am Dienstag massiv nach
„Wir müssen abwarten, bis wir ein endgültiges Bild der Sitze haben“, sagte BJP-Sprecher Nalin Kohli dem Nachrichtenportal India Today am Dienstagmittag „denn die Umfragen am Wahlabend sprachen von einem massiven Sieg, und die Auszählungstrends scheinen dem nicht zu entsprechen.“ Die indischen Börsen, die nach den ersten Prognosen in die Höhe geschnellt waren, gaben im Laufe des Dienstags massiv nach. Auch die indische Rupie fiel gegenüber dem US-Dollar. Die Finanzmärkte reagieren sensibel auf Unsicherheiten. Von Modis Sieg erwartet man sich neben hindunationalistischer Rhetorik auch weitere Wirtschaftsreformen und mehr Wachstum. Die Sorgen der Wählerinnen und Wähler galten allerdings mehrheitlich den steigenden Lebenshaltungskosten, der Inflation und dem Arbeitsmarkt.
Vom Wachstum kam in der vergangenen Legislaturperiode nämlich wenig in der Breite der Bevölkerung an, es mehrte vor allem den Wohlstand der Reichen. Dem Oppositionsbündnis war es zwar kaum gelungen, eine gute Perspektive für die Zukunft Indiens zu entwickeln, aber aus dieser Schwäche der BJP-Regierung konnte sie Kapital schlagen. In einem Fernseh-Interview in der vergangenen Woche reagierte Modi empfindlich auf die Kritik. „Sollte jeder arm sein?“, fragte er und betonte, dass die Verteilung des Reichtums „allmählich und nicht über Nacht“ erfolgen werde.
Mehr als 66 Prozent der 968 Millionen Inder gingen am Ende zur Wahl, nur ein Prozentpunkt weniger als im Jahr 2019. In den ersten Wahlphasen hatte die Beteiligung noch niedriger gelegen. Modi und die BJP hatten befürchtet, dass eine geringe Wahlbeteiligung ihnen schaden könnte, weil ihr Sieg ohnehin festzustehen schien und die Kernwähler sich nicht an die Urnen schleppten, während der gesamten sieben Wahlphasen, in denen Indien unter einer Hitzewelle mit Temperaturen um 50 Grad Celsius litt. Die Nachrichtenagentur Reuters meldete am Dienstag, dass die Temperaturen mehr als 100 Menschen in Indien getötet und Zehntausende krank gemacht haben.
Zu Beginn des Wahlkampfs hatte Modi seine wirtschaftlichen Erfolge im Amt herausgestrichen, doch als die Wahlen mit schwacher Beteiligung starteten, verstärkte er seinen hindunationalistischen Kurs, sprach von „Infiltratoren“ und behauptete, dass im Falle eines Wahlsiegs der Kongress-Partei der Reichtum des Volkes „unter denjenigen verteilt werden wird, die mehr Kinder haben“. Gemeint waren die 220 Millionen Muslime im mehrheitlich hinduistischen Land. Modi bestritt später, diese gemeint zu haben, aber das waren klassische „Dog Whistle Politics“: Jeder wusste, was er sagen wollte, sogar beim Dementi. Das Oppositionsbündnis INDIA hingegen schürte die Sorge, dass Modi die Verfassung ändern würde, wenn er noch stärker an die Macht zurückkehre, und dann die Fördermaßnahmen für Minderheiten sowie die sogenannten rückständigen Kasten streichen würde.
Von den 250 Muslimen in dem Ort wurden an einem Tag 69 getötet
Einer, der Modi deshalb nicht gewählt hat, ist Alla Noor Mansori, 81. Er ist der letzte Muslim, der in der Gulbarg Society lebt, einer einstigen muslimischen Vorzeigesiedlung in Ahmedabad, in Modis Heimatstaat Gujarat. „Hier sind neun umgebracht worden“, erklärte Mansori wenige Tage vor Ende dieser Mammutwahlen und deutete nach links; „dort waren es zwölf“, er zeigte in die andere Richtung. Von den etwa 250 Muslimen, die einst hier lebten, wurden im Jahr 2002 bei den „Gujarat Riots“ an einem Tag 69 getötet. Mit 19 von ihnen war Mansori verwandt. Die restlichen Muslime sind nie wieder zurückgekehrt. „Wer will denn noch hier leben?“ Mansoris Haus ist das einzige mit frischem Anstrich. Die anderen verfallen.
Modi war damals Chef-Minister von Gujarat und wurde verantwortlich gemacht für die Eskalation der Gewalt. Als die Morde später untersucht wurden, gab es Zeugen, die unter Eid aussagten, dass Ehsan Jafri, Sprecher der Siedlung und Abgeordneter der Kongress-Partei, bei Modi angerufen habe, wie es üblich war, wenn es zu Ausschreitungen zwischen Muslimen und Hindus kam. Die Gulbarg-Siedlung wurde dann normalerweise von der Polizei gesichert. Nur am 28. Februar 2002 kam kein Schutz. Stattdessen wurde Jafri von einem Hindu-Mob weggeschleppt, seine Gliedmaßen abgetrennt, bevor er verbrannt wurde.
Modi hat sich nie öffentlich zu dem Mord an Jafri oder seinem Versagen bei den „Gujarat Riots“ geäußert. Laut Alla Noor Mansori war er auch nie in der Gulbarg-Siedlung, um sich das Grauen persönlich anzusehen. Daher war Modi für Mansori, wie für viele Angehörige von Minderheiten im Land, nicht wählbar. In einem seiner raren Fernseh-Interviews für die BBC sagte ein sichtlich verärgerter Modi später einer Journalistin, die ihn fragte, ob er damals etwas hätte besser machen können: „Ja, ich hätte anders mit den Medien umgehen sollen.“ Es hörte sich an wie eine Drohung.
Als Premierminister hat er diese dann umgesetzt und die Medien auf Linie gebracht. Die großen Nachrichtenportale haben seinen Wahlkampf liebevoll begleitet, wer etwas Kritisches sehen wollte, musste auf Youtube ausweichen. Doch es könnte sein, dass sich das jetzt rächt. Wenn er nun mit einem knapperen Ergebnis regieren muss, wird ihn das schwächen. Es gibt in seiner Partei Männer, die denken, dass der 73-Jährige Platz machen sollte für Jüngere. Und die INDIA-Opposition wird in den kommenden Tagen versuchen, die NDA aufzubrechen und Modis Mitstreiter auf ihre Seite zu ziehen, alleine hat die BJP keine Mehrheit mehr. Dadurch sieht es nun so aus, als habe Modi diese Wahl gleichzeitig gewonnen und verloren.