Indien und Pakistan:Zwei Versionen von Kaschmir

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Delhi weist Vorwürfe zurück, dass in der isolierten Region gefoltert wurde.

Von Arne Perras, Singapur

Unter Kontrolle: Ein Soldat der indischen Armee auf den Höhen um die Distrikthauptstadt Srinagar in Jammu und Kaschmir. (Foto: Tauseef Mustafa/AFP)

Die Szenen aus Kaschmir könnten kaum weiter auseinanderklaffen. Da sind die Bilder, verbreitet von den indischen Behörden: Sie erzählen von angeblicher Normalität. Planschende Kinder sind zu sehen, Jungs, die Fußball spielen; alte Männer mit langen Bärten, sie halten im Markt ein Schwätzchen. Ganz anders die wackeligen Videos, die gewaltsame Unruhen zeigen, manchmal sind Schüsse zu hören. Und nun kommen noch verstörende Berichte mutmaßlicher Folterungen dazu, wie sie der Sender BBC veröffentlicht hat. Männer erzählen, anonym und mit verdunkelten Gesichtern, wie sie gequält worden seien. Von Elektroschocks und Schlägen ist die Rede, sie zeigen Wunden. Doch der indische Staat weist solche Vorwürfe gegen seine Sicherheitskräfte vehement zurück.

Unabhängige Untersuchungen mutmaßlicher Übergriffe sind unter den herrschenden Bedingungen im Himalaja nicht möglich. Indische Journalisten können im Krisengebiet nur sehr eingeschränkt arbeiten, ausländische Reporter bekommen keinen Zugang. Delhi hat Kaschmir abgeschottet, der Staat ließ dort Tausende Menschen festnehmen, darunter die gesamte einheimische Führung. Indien rechtfertigt das mit der Notwendigkeit, Gewaltausbrüchen vorzubeugen. Am 5. August hatte die Regierung von Narendra Modi der Region Kaschmir autonome Sonderrechte entzogen und muss seither Unruhen fürchten. Kritiker sehen im Vorgehen Delhis einen "Verfassungsputsch", Befürworter sagen, es sei an der Zeit, die Krisenzone stärker zu kontrollieren, weil sie anders nicht zu beruhigen sei.

Je länger der eiserne Griff Indiens anhält, desto undurchschaubarer ist die Lage

Premier Modi verspricht Frieden und Entwicklung, aber was durchsickert aus Kaschmir, passt nicht recht ins Bild. Und je länger der eiserne Griff anhält, umso lauter werden Klagen, Delhi verschleiere die Lage. Indiens Medien wagen selten, die offiziellen Darstellungen anzuzweifeln. Die Zeitung Hindu berichtete immerhin unter Berufung auf eine offizielle anonyme Quelle, dass mindestens 36 Menschen in Kaschmir von sogenannten Pellets getroffen wurden, Streumunition, wie sie gegen Demonstranten dort schon seit Jahren eingesetzt wird. Die Schützen haben angeblich Anweisung, auf die Füße zu schießen, doch es hat in den vergangenen Jahren immer wieder Fälle gegeben, in denen Getroffene ihre Augen verloren. Das wurde teils dokumentiert von Augenärzten, doch kann sie in diesen Zeiten niemand befragen.

Die Krise lastet nun auch auf dem Verhältnis zu den Vereinigten Staaten, die zuletzt sehr bemüht waren, ihre Beziehungen zu Indien zu stärken, auch um ein stärkeres Gegengewicht gegen den Rivalen China in Asien aufzubauen. Noch vor wenigen Tagen hatten sich Donald Trump und Narendra Modi in Frankreich getroffen, sie schäkerten vor der Kamera, und mit Blick auf Indiens Rolle in Kaschmir sagte der US-Präsident: "Der Premierminister hat wirklich das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben." Das klang so, als wolle er Modi erst mal machen lassen und sich nicht weiter einmischen.

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(Foto: K.M. Cjuadary/AP)

Pakistanische Studenten zeigen auf einer Demonstration in Lahore ihre Solidarität mit der Bevölkerung in Kaschmir.

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(Foto: Tauseef Mustafa/AFP)

Ein Fischer wirft im Dal-See in Srinagar sein Netz aus.

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(Foto: Dar Yasin/AP)

Indische Paramilitärs halten einen Mann an einem Checkpoint in Srinagar auf.

Wenige Tage danach klingen die Sätze aus dem US-Außenministerium schon etwas dringlicher: Washington sei sehr besorgt über die Festnahmen, hieß es in einer Erklärung zu Kaschmir, die USA "mahnten Respekt für die Menschenrechte an", ein Dialog mit den Betroffenen sei nötig. Für die Vereinigten Staaten ist eine Verhärtung der Fronten in Kaschmir ein Dilemma, denn aus strategischen Gründen braucht Washington, wenn es seine Soldaten aus Afghanistan abzieht, Pakistan als Partner. Gleichzeitig wollen die Amerikaner aber auch die Gunst der Inder nicht verlieren.

Pakistan aber will in Kaschmir nicht zurückstecken. Am Donnerstag ließ Islamabad schon mal demonstrativ eine nuklear-fähige Kurzstreckenrakete testen. Und am Freitag rief Premier Imran Khan zu landesweiten Protesten gegen Indiens Kaschmirpolitik auf. Der Regierungschef ließ mittags die Sirenen zur "Kaschmir-Stunde" erklingen, Zehntausende folgten dem offiziellen Aufruf, sich in den Straßen zu versammeln, der Premier gab den treuen Paten: "Solange die Kaschmirer nicht ihre Freiheit bekommen, stehen wir zu ihnen", versprach Khan. Außerdem beklagte er, dass die Welt dazu tendiere, stumm zu bleiben, wenn es sich bei Unterdrückten um Muslime handele. Der religiöse Unterton weckte Emotionen und schärfte das Feindbild: Modis Regierung prangerte er als "faschistisch" an, trotz internationaler Mahnungen, die Rhetorik im gefährlichen Konflikt zwischen zwei Atommächten zu mäßigen.

Mitte August war es Pakistan gelungen, den Kaschmir-Konflikt erstmals seit 1971 vor den UN-Sicherheitsrat zu bringen. Für Islamabad ein seltener diplomatischer Erfolg, der aber auch nur möglich wurde durch die Hilfe aus Peking. Eine UN-Resolution hatte schon 1948 eine Volksabstimmung im früheren Prinzenstaat Kaschmir empfohlen, das Plebiszit sollte über die Zukunft der Region entscheiden, doch es kam niemals dazu. Indien pocht seit Jahrzehnten auf eine bilaterale Lösung, wobei es als sehr unwahrscheinlich gilt, dass Delhi jemals seinen Anspruch auf ganz Kaschmir aufgeben könnte. Der letzte Maharadscha des früheren Prinzenstaates hatte sich nach dem Abzug der britischen Kolonialherren einst für Indien entschieden. Und das ist aus Sicht der Regierung in Delhi unverrückbar.

© SZ vom 31.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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