Indien und Pakistan:"Jede Träne, die geflossen ist, wird gerächt"

Reactions In New Delhi As India-Pakistan Tensions Escalate Following Air Strike

Aufgeheizte Stimmung: Demonstranten in der indischen Hauptstadt Delhi feiern die Angriffe der Luftwaffe des Landes auf pakistanisches Territorium.

(Foto: T. Narayan/Bloomberg)
  • Pakistan und Indien streiten sich seit ihrer Unabhängigkeit um Kaschmir, internationale Vermittlungsversuche sind gescheitert.
  • Derzeit ist die Lage in der Himalaja-Region so explosiv wie lange nicht, auf einen indischen Luftangriff folgt ein pakistanischer.
  • In beiden Ländern haben die Mächtigen kaum Interesse daran, den Konflikt zu entschärfen.

Von Tobias Matern

Eigentlich dürfte das Thema in Wahlkämpfen keine Rolle spielen. Dafür ist es zu aufgeladen, dazu steht zu viel auf dem Spiel: zwei Atommächte, die sich bereits mit konventionellen Waffen bekämpfen, immer mit der lauernden Gefahr im Hintergrund, dass sie ihr nukleares Arsenal aktivieren könnten. Aber Kaschmir und der sich daran entzündende Konflikt zwischen Indien und Pakistan ist nun fester Teil in Wahlkampfreden und Wuttiraden. "Jede Träne, die geflossen ist, wird gerächt", gibt Indiens Premierminister Narendra Modi als Parole aus - in wenigen Wochen will er sich an der Wahlurne eine zweite Amtszeit sichern. Nach einigen Rückschlägen bei Regionalwahlen bietet der Kaschmir-Konflikt dem Regierungschef die Möglichkeit, die Nation hinter sich zu versammeln.

Auch die pakistanische Seite zeigt keine Anzeichen an rhetorischer Zurückhaltung: "Niemand in der Region oder sonstwo sollte auch nur daran denken, meinem Land schaden zu können", droht Pakistans Präsident Arif Alvi unverhohlen. Der Krieg der Worte ist längst entbrannt. Die Lage ist ernst, so ernst wie seit Jahrzehnten nicht mehr, als beide Länder Waffen sprechen ließen - damals waren sie aber noch keine Atommächte. Indien und Pakistan beanspruchen die volle Kontrolle über Kaschmir, und sie weichen keinen Millimeter von dieser Extremposition ab.

Zwar hat Indiens Regierungschef Modi bereits 2016 in Kaschmir Luftschläge gegen pakistanische Extremisten fliegen lassen. Doch dieses Mal sind binnen kurzer Zeit einige Eskalationsstufen übersprungen worden.

Der Reihe nach: Die jüngsten Verwerfungen begannen am 14. Februar. Bei einer Attacke im indischen Teil Kaschmirs starben 44 Angehörige einer indischen paramilitärischen Einheit. Die Tat beanspruchte die Extremistengruppe Jaish-e-Mohammad (JeM) für sich.

Indiens Luftwaffe flog daraufhin am Dienstag nach eigener Darstellung einen Angriff auf ein Trainingscamp der Islamisten, dabei seien mehr als 300 Menschen gestorben. Pakistan behauptete wiederum, die feindlichen Flieger hätten ihr Ziel schlicht verfehlt. Bemerkenswert an dem Vorgang ist, dass der Vergeltungsschlag in einer pakistanischen Provinz ausgeführt wurde, und nicht im umstrittenen Kaschmir - das ist ein neuer Eskalationsgrad und macht diesen Konflikt umso gefährlicher.

Am Mittwoch nun meldete die pakistanische Seite, man habe zwei indische Militärmaschinen abgeschossen, zwei Piloten seien in Gefangenschaft. Als Demonstration der eigenen Stärke habe die pakistanische Luftwaffe zudem im von Indien verwalteten Teil Kaschmirs sechs Geschosse auf "offenes Gelände" abgefeuert. Die Botschaft: Wir sind dazu bereit, diesen Konflikt weiter zu verschärfen.

Für Beobachter von außen ist es in diesem Konflikt geradezu unmöglich, unabhängige Fakten zu bekommen. Die Medien in beiden Ländern, in Indien und Pakistan, spiegeln zumeist nur die offizielle Darstellung wieder: Indien sagt, Pakistan erwidert. Oder Pakistan sagt, Indien erwidert. Zu diesem Ergebnis kam bereits eine umfassende Studie der Universität Bournemouth, in der die mediale Begleitung des Konflikts zwischen beiden Ländern untersucht worden war. In den von den Regierungen oder ihren Sicherheitskräften verbreiteten Stellungnahmen geht es auch aktuell nicht um Ausgleich, sondern darum, die andere Seite möglichst schlecht aussehen zu lassen - und sich selbst als Opfer darzustellen.

Indien wirft dem pakistanischen Sicherheitsapparat schon seit Jahren vor, Extremisten wie die JeM zu unterstützen und sie von pakistanischem Territorium aus operieren zu lassen. Pakistan streitet das immer wieder ab, bis zum nächsten Vorwurf aus Delhi, den es wieder abstreitet. Andererseits zielt Islamabad stets darauf ab, das massive Militäraufgebot der indischen Armee in Kaschmir als Besatzungstruppe darzustellen, die den eigentlichen Willen der Bevölkerung unterdrückt. Der bewaffnete Kampf in Kaschmir sei, so Pakistans Lesart, in Wahrheit ein Freiheitskampf gegen indische Aggressoren.

Alle internationalen Versuche zu vermitteln sind gescheitert

Diese Vorwürfe in Endlosschleife sind nicht neu, aber sie wirken in diesen Tagen deutlich gravierender als in der Vergangenheit. Das hat einerseits damit zu tun, dass der Hindunationalist Modi schon länger einen härteren Kurs gegen Pakistan eingeschlagen hat als seine Vorgänger-Regierung. Nun verschärft er ihn noch im Wahlkampf. Indiens Regierungschef will sich keine Blöße geben in Fragen der nationalen Sicherheit. Und die wird in Delhi vor allem am Verhältnis zu Pakistan gemessen. Der zu Beginn von Modis Amtszeit begonnene Annäherungsprozess mit Islamabad ist längst auf Eis gelegt.

In Pakistan wiederum ist in Imran Khan seit Sommer zwar ein neuer Premierminister an der Macht, der zumindest rhetorisch darum bemüht war, auf Indien zuzugehen. Aber in dem Land werden die außen- und sicherheitspolitischen Linien noch immer vom allmächtigen Militär vorgegeben. Und Pakistans Armee rechtfertigt ihre Vormachtstellung im "Land der Reinen" vor allem durch eines: den Dauerkonflikt mit dem Erzfeind Indien um die Himalaja-Region.

Kaschmirs blutige Teilung

Bis zum Jahr 1947 war Indien eine britische Kronkolonie. Der Schritt in die Unabhängigkeit schuf zwei Nationen: Indien, das die weitgehend hinduistischen Provinzen zugesprochen bekam, und Pakistan als neue Heimstätte für die Muslime. Es war eine äußerst blutige Teilung, und diese von Gewalt überschattete Geburtsstunde ist bis heute eine klaffende Wunde in der Beziehung beider Länder.

Kaschmir war in diesem ohnehin schwierigen Teilungsprozess von Anfang an noch einmal ein besonders sensibles Gebilde. Der ehemals halb-autonome Fürstenstaat wurde von einem hinduistischen Maharadscha geführt, mehrheitlich aber von Muslimen bewohnt. Der Fürst mühte sich, die Unabhängigkeit Kaschmirs zu bewahren. Aber als pakistanische Milizen das Gebiet erobern wollten, bat er indische Sicherheitskräfte um Hilfe. Dafür schloss er sich im Gegenzug Indien an. Es entbrannte der erste Krieg um Kaschmir, der 1949 in eine Teilung des Gebietes mündete.

Seitdem existiert der indische Unionsstaat Jammu und Kaschmir, der etwa zwei Drittel der Region ausmacht, und der nördliche Teil unter pakistanischer Hoheit. Die Grenzlinie bildet bis heute die damalige Waffenstillstandslinie. Als Folge eines kurzen indisch-chinesischen Krieges im Jahr 1962 gehört zudem ein Teil Kaschmirs zu China. Ende der 1980er Jahre begannen Separatisten im indischen Teil Kaschmirs mit Angriffen auf das dort stationierte indische Militärkontingent den bewaffneten Kampf für die Unabhängigkeit oder den Anschluss an Pakistan. Seither sind mehr als 70 000 Menschen gewaltsam umgekommen.

Die Vereinten Nationen wollten einst die Kaschmiris selbst über ihren Status entscheiden lassen. Noch heute würden die Menschen dabei wohl mehrheitlich für die Unabhängigkeit stimmen. Daran aber haben weder die pakistanische noch die indische Regierung ein Interesse. Sie erheben beide den vollen Anspruch auf Kaschmir. toma

Internationale Vermittlungsversuche sind in den vergangenen Jahren allesamt gescheitert. Ähnlich wie im Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis sind die Streitparteien zu sehr ineinander verkeilt. Ein von beiden Seiten anerkannter Makler, der in der Lage wäre, diesen Konflikt zu lösen, hätte gute Aussichten auf den Friedensnobelpreis. Bill Clinton war einst intensiv darum bemüht, Indien und Pakistan an einen Tisch zu bringen: Und auch Barack Obamas Top-Diplomaten wussten, dass eine Lösung des Kriegs in Afghanistan einfacher zu erreichen wäre, wenn Kaschmir befriedet werden könnte. Denn auch in Afghanistan werfen sich Indien und Pakistan gegenseitig vor, die Interessen des jeweils anderen zu sabotieren.

Pakistan verweist beim Thema Kaschmir auf UN-Resolutionen, die den Menschen in der Region ein Mitspracherecht einräumen sollen. Immer wieder hat das Land auch für einen von einer dritten Partei moderierten Dialog geworben. Indien aber besteht auf bilateralen Gesprächen der Regierungen in Delhi und Islamabad.

Einen der bisher erfolgversprechendsten Anläufe für eine Aussöhnung in Kaschmir begannen der damalige pakistanische Militärmachthaber Pervez Musharraf und der indische Premierminister Atal Bihari Vajpayee im Jahr 2001. Damals mündeten die Kontakte in den sogenannten "Verbunddialog". Auch über eine Verbesserung der indisch-pakistanischen Handelsbeziehungen redeten die beiden, um die heikle Kaschmirfrage in einen weniger strittigen Kontext einzubetten.

Doch die Terroranschläge von Mumbai im Jahr 2008, ausgeführt von pakistanischen Extremisten und nach fester indischer Überzeugung gestützt vom pakistanischen Geheimdienst, beendeten die zögerliche Annäherung. Einige Anläufe seither, den Versöhnungsprozess wieder in Gang zu bringen, scheiterten. In der derzeit aufgeladenen Situation wäre es bereits ein diplomatischer Erfolg, wenn sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit dem Thema beschäftigen könnte.

Zwar gibt es gerade unter westlichen Diplomaten den Vorwurf in Richtung Pakistan, es lasse Extremisten im Kampf um Kaschmir gegen Indien gewähren oder unterstütze sie sogar aktiv. Doch Indiens Versuch, Pakistan in der aktuellen Kaschmir-Krise international zu isolieren, läuft ins Leere. Islamabad spielt dabei in die Hände, dass es in den vergangenen Jahren die Beziehungen zum gemeinsamen Nachbarn China kräftig ausgebaut hat. Für Pekings Pläne einer neuen Seidenstraße ist das muslimische Land ein zentraler Baustein. Ein Krieg zwischen Indien und Pakistan wäre allerdings gegen Chinas Interessen. Daher auch der wohlmeinende Pekinger Aufruf zur Mäßigung - sowohl an Indiens als auch an Pakistans Adresse gerichtet.

Der Konflikt hängt zusammen mit der Lage in Afghanistan

Auch die USA halten sich zurück. Es gibt keine einseitigen Schuldzuweisungen in Richtung Islamabad, auch wenn Präsident Donald Trump vor dieser Krise häufig seinen Ärger über Pakistan zum Ausdruck gebracht hatte. US-Außenminister Mike Pompeo ruft vielmehr beide Seiten explizit dazu auf, "weitere militärische Aktivitäten" zu vermeiden. Die USA verhandeln gerade mit den Taliban in Doha, um einen Friedensschluss in Afghanistan auf den Weg zu bringen. Islamabad hat dafür im Herbst in Mullah Baradar einen hochrangigen Talib aus dem Hausarrest entlassen. Er sitzt dieser Tage mit Amerikas Chefunterhändler an einem Tisch, um über einen Rückzug der US-Truppen vom Hindukusch zu sprechen. Setzen die USA nun Pakistan zu sehr unter Druck, so die Befürchtung, könnte dieser gerade erst in Gang gesetzte Dialog gleich wieder zu Ende sein.

Auch wenn die großen Mächte mahnen: In Indien und Pakistan gehen wenige davon aus, dass ihre Regierungen nun ein Interesse daran haben, den Kaschmir-Konflikt zu entschärfen: "Ich glaube nicht, dass diese Frage jemals gelöst wird", sagt der Angestellte eines Hotels in Delhi, der seinen Namen nicht in einem Zeitungsartikel über Kaschmir genannt haben will. Das Thema sei zu sensibel.

Die Pakistanerin Meera Jamal glaubt auch nicht, dass die Krise um Kaschmir in naher Zukunft geklärt werde: "Es wird zwar keinen großen Krieg geben", da ist sich die in Deutschland lebende Journalistin sicher. Aber die Himalaja-Region sei eine "Angelegenheit, die beide Seiten zu ihren Gunsten weiter nutzen werden". In Indien sei das Thema gerade in Wahlkampfzeiten "eine sichere Bank für Wählerstimmen". Und in Pakistan lasse sich darauf verweisen, wie sehr das Land "auf die Armee angewiesen ist, um sich gegen einen üblen Feind zu verteidigen".

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