Indien und China:Das Ringen um die acht Finger

Indien und China: Trügerischer Frieden: Der See Pangong und die „acht Finger“ auf mehr als 5000 Metern eisiger Höhe im Himalaja.

Trügerischer Frieden: Der See Pangong und die „acht Finger“ auf mehr als 5000 Metern eisiger Höhe im Himalaja.

(Foto: Manish Swarup/AP)

Beide Staaten bekommen ihren Streit um die Grenzlinie im Himalaja offenbar nicht entschärft.

Von Arne Perras, Singapur

China und Indien streiten sich um "die acht Finger". So nennen die Strategen eine Reihe von Bergrücken, die sich, durch steinige Rinnen voneinander getrennt, an der Nordseite des Sees Pangong aneinanderreihen. "Finger eins" bis "Finger acht". Und beide Armeen versuchen, so viele davon wie möglich zu kontrollieren. Wem das Gebiet in den eisigen Höhen des westlichen Himalajas gehört, ist ungeklärt. Es gibt keine vereinbarte Grenze. Und seit Wochen wachsen dort die Spannungen.

So stark ist die Lage eskaliert, dass sich nun am Samstag Generäle beider Länder trafen, um einen Ausweg zu finden. Kaum etwas sickerte durch von diesen ersten Verhandlungen über den sogenannten Standoff in Ladakh. Doch das indische Außenministerium war bemüht, Beruhigungspillen für die Öffentlichkeit zu verteilen. Die Gespräche seien "herzlich und positiv" verlaufen, hieß es, beide Seiten seien sich einig, dass man "die Situation in den Grenzgebieten friedlich lösen" müsse. Der Ernst der Lage kam in diesen Phrasen kaum zu Ausdruck, die Hindustan Times sprach ernüchtert von einem "nicht schlüssigen" Ende. Alles scheint offen, nichts gelöst.

In den Bergen vollzieht sich eine rasante Militarisierung zwischen den Nuklearmächten Asiens

China soll mehrere Tausend Soldaten in das umstrittene Gebiet verlegt haben, während Delhi angekündigt hat nachzuziehen. In den Bergen des westlichen Himalajas vollzieht sich somit eine rasante Militarisierung zwischen den führenden Nuklearmächten Asiens, China und Indien. Diese Entwicklung fügt dem ohnehin schon angeheizten Verhältnis zwischen Pakistan und Indien in Kaschmir eine weitere bedrohliche Dimension hinzu.

In Delhi setzt man auf weitere Gesprächsrunden, doch es hat sich viel Misstrauen aufgestaut. 3488 Kilometer lang ist die Grenze und auf weiten Strecken nicht demarkiert. So beschuldigen sich beide Seiten immer wieder gegenseitig, neue Positionen einzunehmen und den Status Quo zu verändern.

Der See Pangong und die "acht Finger" liegen auf 4300 Metern Höhe, tiefes Blau vor beigefarbenen und kupferroten Höhen: Die Bilder sehen aus, als stammten sie von einem fernen Stern. Militärstrategen beider Seiten beugen sich nun über Truppenpläne, Geländekarten und GPS-Koordinaten, sie studieren Satellitenbilder, die Aufschluss geben können über Straßentrassen, Brücken und eingegrabene Artilleriestellungen.

Oben in Ladakh haben beide Nationen schon einmal Krieg gegeneinander geführt. 1962, im Schatten der Kubakrise, erregte das wenig globale Aufmerksamkeit. Aber China fügt dem Nachbarn damals eine schmachvolle Niederlage zu. Offiziell betonten beide Seiten zuletzt immer wieder ihre friedliche Koexistenz; manchmal zelebrierten sie gar theatralisch eine Partnerschaft, die weit weniger harmonisch ist, als Chinas Staatschef Xi Jinping und Indiens Premierminister Narendra Modi die Welt glauben machen wollen. Die Arena in den Bergen macht die Rivalität deutlich, in der sich beide Milliardenvölker zunehmend verkeilen.

In Indien ist man der Ansicht, dass China an verschiedenen Punkten in Ladakh bis zu 60 Quadratkilometer Territorium besetzt hat, das Delhi für sich beansprucht. In Peking wiederum pocht die Führung darauf, chinesische Souveränität zu schützen. So sei Indien etwa im Galwan-Tal vorgerückt, Peking ist verärgert über den Bau einer indischen Straße und Brücke in umstrittenen Gebieten. Sie dürften es Delhi erleichtern, Truppen und Gerät zu bewegen. Indien wiederum hat Satellitenbilder veröffentlicht, die von China errichtete Stellungen zeigen sollen, am Nordufer des Pangong-Sees.

Das historische Gepäck ist beträchtlich. Die britische Kolonialmacht hat beim Abzug aus Südasien unklare Verhältnisse hinterlassen, Delhi und Peking haben sich seither nie auf einen Grenzverlauf geeinigt. Zwar ist oft die Rede von einer "Line of Actual Control", kurz LAC; eine Demarkationslinie, die seit den 1950er Jahren das indische vom chinesischen Staatsgebiet trennen soll; doch nicht einmal über deren Verlauf herrscht Einigkeit, jede Seite hat ihr eigene Vorstellung von der LAC.

Chinas Vorstöße mögen sich innerhalb jenes Territoriums bewegen, das Peking für sich beansprucht. Doch Ashley Tellis, Südasienexperte am US-Thinktank Carnegie Endowment for International Peace, meint, dass China eine neue "Kampfeslust gegenüber Indien" erkennen lasse, und dies nicht erst seit Beginn der Corona-Krise. Tellis spricht von einer "beabsichtigten Einschüchterung durch militärische Mittel".

Vorausgegangen war allerdings Indiens Entscheidung, den Brennpunkt Kaschmir neu zu ordnen. Ladakh, das zuvor zum halbautonomen Kaschmir gehörte, wird nun direkt von Delhi als Unionsterritorium verwaltet, was Peking erboste. China war nicht bereit, Indiens Zusicherungen zu akzeptieren, dass die Veränderungen in Kaschmir innenpolitische und nicht gegen China gerichtete Gründe hätten.

Pekings Vorstöße bringen Indien in eine prekäre Lage: Falls Gespräche versanden, könnte Delhi nur durch Gewalt versuchen, den früheren Status Quo wieder herzustellen. Damit allerdings würde Indien womöglich einen Krieg riskieren, den niemand will. Viele Möglichkeiten bleiben Delhi nicht, es kann ansonsten nur weitere chinesische Vorstöße abblocken, ohne dass Peking neu gewonnenes Territorium aufgeben muss.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: