Indien:Tödlicher Narzissmus

Das Land kämpft mit den Gefahren des Selfies.

Von Arne Perras

Eine hohe Mauer über dem Strand: Unten donnert die Brandung des Ozeans, oben machen Leute Picknick. Die Stimmung ist ausgelassen, einige vollführen tollkühne Klettereien mit ihren Smartphones. Das Schild, das Selfies verbietet, ist nicht zu übersehen, aber die kichernden Teenager stört es nicht. Die Pose ist entscheidend, es wird wild drauflosgeklickt und gepostet.

Eine Szene an der Westküste Indiens, beobachtet vor wenigen Tagen. Für die Jagd nach dem spektakulären Bild riskieren junge Menschen vielerorts ihr Leben, aber in Indien scheinen aberwitzige Selfie-Stunts besonders beliebt zu sein. Je exponierter der Ort, je verrückter die Kulisse, desto besser. Und das hat seinen Preis. Etwa die Hälfte aller tödlichen Unfälle beim Aufnehmen von Selfies geschehen in Indien, wie Auswertungen eines medizinischen Fachjournals 2018 ergaben.

Am Wochenende traf es nun eine Familie in Tamil Nadu. Die Mutter hatte sich gerade frisch vermählt, zur Feier des Tages stieg sie mit ihrem Sohn, 14, und ihren Töchtern, 18 und 19, fürs Selfie in einen Fluss. Hüfttief in den Wellen hielten sie sich an den Händen, plötzlich rutschte der Junge weg und riss alle mit sich. Es wurde zunächst nicht bekannt, ob die Opfer schwimmen konnten, nur der Vater und dessen Schwester überlebten.

Der indische Staat weiß um das Problem, er steckt Selfie-Gefahrenzonen ab und hat in den vergangenen Jahren Foto-Verbote an exponierten Plätzen ausgeweitet, dennoch gelingt es nicht, solche Unfälle - "deaths by selfie" - zu verhindern. "Killfies" werden sie in indischen Medien genannt. Besonders irrwitzig sind Mutproben vor herannahenden Zügen. Nicht immer gelingt der rettende Sprung vom Gleis in letzter Sekunde. Und selbst wenn, endet die Episode dennoch manchmal tödlich, wenn gleich nebenan schon der Zug aus der Gegenrichtung heranrast.

Selfies mit Todesfolge sind auf allen Kontinenten zu beobachten, Indien führt die Todesliste an, gefolgt von Russland, den Vereinigten Staaten und Pakistan. Wenig überraschend: Drei von vier Opfern waren Männer, offenbar verspüren sie einen weit größeren Druck, sich als Helden zu inszenieren, als Frauen.

Menschen, die zum Narzissmus neigen, scheinen sich für Selfies ganz generell mehr zu begeistern als andere, so weit ist dies ein grenzübergreifendes Phänomen. In Indien könnten aber auch kulturelle Faktoren zu der großen Bedeutung von Selfies beitragen. So weist die Anthropologin Jolynna Sinanan von der University of Sydney darauf hin, dass Bilder aller Art einen extrem hohen Stellenwert genießen, man sieht es selbst an den zahlreichen Götterdarstellungen, die nahezu jede Wohnung von Hindus in Indien zieren. Wo die visuelle Kultur derart ausgeprägt ist, bekommen nach dieser These auch Selbstdarstellungen in sozialen Medien ein Gewicht, das sie in weniger visuell geprägten Gesellschaften gar nicht entwickeln könnten.

Sicher ist: Fast alle, die ihre Selfies mit dem Leben bezahlten, waren jünger als 30. Das dürfte zumindest teilweise erklären, warum Indien - ein Land mit sehr junger Bevölkerung - weit stärker mit Selfie-Exzessen zu kämpfen hat als überalterte Gesellschaften in Europa.

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