Im politischen Gefüge Indiens haben die einzelnen Regionen ein großes Eigenleben, in den Bundesstaaten formen sich vielfältige Allianzen, und diese Kraftzentren setzten sogar einer so mächtigen Partei wie der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) von Premier Narendra Modi immer wieder Grenzen. Zwar dominiert die BJP vielerorts, gerade hat sie erneut Wahlen im Bundesstaat Haryana gewonnen. In der Krisenregion Kaschmir im Himalaja allerdings, die von der Rivalität der beiden Atommächte Pakistan und Indien zerrissen wird, muss die Partei Modis erkennen: Sie kann dort kein breites Vertrauen gewinnen, sie stößt auf Widerstand.
Das Ergebnis jedenfalls passt nicht zu den großspurigen Ankündigungen Modis, der gerne das Bild eines „neuen Kaschmir“ in die Wolken malt. In diesem Idealbild findet die Jugend genug Arbeit, die Geschäfte gedeihen für alle, und die Gewalt im Gebirge findet ein Ende. Doch breite Gefolgschaft erzeugt die BJP-Rhetorik nicht. Zwar hat die Partei in den von Hindus dominierten Bezirken in Jammu gepunktet. Doch im Kaschmirtal, das überwiegend von Muslimen bevölkert ist, halten sich die Wähler fern von der BJP.
Ein Bündnis von BJP-Gegnern hat eine solide Mehrheit an Sitzen eingefahren. Sieger ist Omar Abdullah, 54, Spross einer eingesessenen kaschmirischen Politikerdynastie, mit seiner Allianz kommt er auf 48 von 90 Sitzen. Seine Partei Jammu and Kashmir National Conference (JKNC) paktiert dabei mit der oppositionellen Kongresspartei, die auf nationaler Ebene jahrzehntelang Indien regierte, bevor die BJP 2014 in Delhi triumphierte.
Ein Referendum über Delhis Kurs
In Kaschmir gilt die jüngste Abstimmung als bedeutende Wegmarke, erstmals seit zehn Jahren dürfen die Menschen wieder ein eigenes Parlament wählen. Gedeutet wird das Ergebnis in erster Linie als ein Referendum über die BJP; genauer gesagt über deren brisante Entscheidung 2019, dem Staat Kaschmir seinen Sonderstatus mit autonomen Rechten zu nehmen.
Modis Lager brachte damals ein Verfahren auf den Weg, um den Status der Unruheregion herabzustufen. Aus einem regionalen Staat mit autonomen Rechten wurden zwei sogenannte Unionsterritorien: eines in Ladakh und das andere in Jammu und Kaschmir. Das sind keine vollwertigen Bundesstaaten mit Parlamenten und vor Ort gewählter Regierung. Sie werden vielmehr direkt von Delhi durch einen jeweiligen Gouverneur geführt.
Der territoriale Status quo in Kaschmir ist ohnehin kompliziert, die Region tief gespalten: Jenseits einer Trennlinie, der sogenannten Line of Control, liegt der von Pakistan kontrollierte Teil Kaschmirs. Beide Atommächte beanspruchen die strategisch bedeutsame Region, sie führten darum schon drei Kriege.
Im indisch-kontrollierten Teil Kaschmirs empfanden viele Bewohner den Schritt Delhis, Kaschmir die Autonomie zu entziehen, als schwere Demütigung und Entzug fest verankerter Rechte. 2019 wurden Tausende Menschen in der Region festgenommen, auch Omar Abdullah, der jetzige Wahlsieger, war damals fast acht Monate lang eingesperrt. Delhi fürchtete Proteste und Gewalt.
Viele sehen die Armee als Besatzungsmacht
Viele Probleme Kaschmirs bleiben ungelöst. Wie der Südasienexperte Michael Kugelmann schreibt, beschneidet der massive Sicherheitsapparat die Freiheiten der Menschen und lässt sie davor zurückschrecken, sich offen zu äußern. Seit Jahrzehnten ist Kaschmir extrem militarisiert, im indisch kontrollierten Teil sehen viele die Armee als Besatzungsmacht, die weitgehend freie Hand habe und selbst bei ungerechtfertigten Übergriffen nicht zur Rechenschaft gezogen werden könne.
Indien wiederum verweist auf die Gefahr von Separatisten und Extremisten, die von Pakistan gesteuert würden und Terroranschläge verübten. Ausländischen Journalisten verwehrt Delhi seit einigen Jahren die Reise nach Kaschmir, lokale Reporter müssen mit Repressalien rechnen, wenn sie frei berichten.
Das Verfassungsgericht Indiens ordnete inzwischen an, dass die „Staatlichkeit“ der Region wieder „so schnell wie möglich“ hergestellt werden müsse. Auch Indiens Innenminister Amit Shah, ein Hardliner der BJP, hat dies inzwischen zugesagt.
Diese Forderung rückt nun auch Wahlsieger Abdullah in den Vordergrund, seine Wähler wollen ihn baldmöglichst als Regierungschef sehen. Allerdings bleibt offen, wie viel Spielraum ein neuer Chief Minister tatsächlich haben wird, noch verfügt der Gouverneur, den Delhi bestimmt hat, über umfassende Vollmachten in der Region.
Gemessen an den vielen Spannungen verliefen die Wahlen recht ruhig. Und anders als bei früheren Abstimmungen, die häufig von Boykottaufrufen lokaler Kräfte begleitet waren, lag die Wahlbeteiligung hoch: bei mehr als 63 Prozent.
Offenbar wollten die Kaschmirer die Wahl nutzen, um ein klares Signal an Modi und seine Getreuen schicken: Die Schmach der Degradierung zum Unionsterritorium sitzt noch immer tief.