Indien:„Meine Tochter ist tot, aber Millionen Söhne und Töchter sind jetzt bei mir“

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Zorn und Verzweiflung: In Mumbai protestieren Inder gegen Gewalt an Frauen. (Foto: Rafiq Maqbool/DPA)

Nach der Vergewaltigung und Ermordung einer jungen Medizinerin haben mehr als eine Million Ärzte die Arbeit niedergelegt. Der Fall beschäftigt von Dienstag an das Oberste Gericht in Delhi – und versetzt die indische Gesellschaft in Aufruhr.

Von David Pfeifer, Bangkok

Die Vergewaltigung und Ermordung einer jungen Ärztin in Kolkata wird von Dienstag an den Obersten Gerichtshof in Delhi beschäftigen, nachdem der Calcutta High Court den Fall an das Central Bureau of Investigation überwiesen hat. Der Fall hat also nicht nur das Land in Aufruhr versetzt, er ist auf der höchsten Ebene von Politik und Gerichtsbarkeit angekommen. Es geht nicht mehr nur um die Tat an sich, sondern auch darum, was sie ausgelöst hat.

Die 31 Jahre alte Medizinstudentin, die ihr Praktikumsjahr absolvierte, wurde in den frühen Morgenstunden des 9. August tot aufgefunden. Sie hatte nach fast 20 Stunden einer 36-stündigen Arbeitsschicht zusammen mit Kollegen etwas zu essen bestellt und sich dann in einem leeren Seminarraum schlafen gelegt. Der Abschlussbericht ist noch nicht veröffentlicht, doch die Polizei sagt, die Indizien seien eindeutig: Die junge Frau sei von mehreren Männern vergewaltigt und umgebracht worden. Der Fall erinnert an die Gruppenvergewaltigung in einem Bus in Delhi im Jahr 2012, bei der eine 23-Jährige so misshandelt wurde, dass sie an ihren Verletzungen starb.

Am vergangenen Mittwoch zogen Tausende Frauen unter dem Motto „Reclaim the Night“ von Mitternacht an durch mehrere indische Städte, um gegen die mangelnde Sicherheit für Frauen, die nachts unterwegs sind, zu protestieren. Am Donnerstag sagte Premierminister Narendra Modi im Rahmen einer Ansprache zum Unabhängigkeitstag: „Als Gesellschaft müssen wir über die Gräueltaten nachdenken, die an unseren Müttern, Töchtern und Schwestern begangen werden. Die Empörung darüber ist im Land groß. Ich kann diese Empörung spüren.“ Doch der Zorn und die Verzweiflung über die Tat und ihre Umstände wuchsen weiter, bis sie sich am Wochenende in einem Generalstreik von mehr als einer Million Ärztinnen und Ärzte im ganzen Land ausdrückten. Nur Notfälle wurden noch behandelt.

Aktivisten erinnern an die Gruppenvergewaltigung von Delhi

Frauenaktivistinnen machten gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters deutlich, dass sich wenig geändert habe seit der Gruppenvergewaltigung von Delhi 2012 und strengeren Gesetzen, die danach eingeführt wurden, darunter Schnellgerichte für Fälle sexueller Übergriffe. Nach Daten des National Crime Records Bureau von Ende 2023 stiegen die Straftaten gegenüber Frauen in Indien im Jahr 2022 um vier Prozent. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein, da Opfer meist stigmatisiert werden und eine Vergewaltigung nicht anzeigen. Nur bei besonders brutalen Fällen wie dem aktuellen kocht die Empörung hoch. „Meine Tochter ist tot, aber Millionen Söhne und Töchter sind jetzt bei mir“, sagte der Vater des Opfers am späten Samstag gegenüber Reportern zu den landesweiten Protesten, bei denen längst nicht mehr nur Ärzte auf die Straße gingen.

Die indische Ärztevereinigung forderte Premierminister Narendra Modi in einem Brief auf, dafür zu sorgen, dass das Krankenhauspersonal in Zukunft durch ähnliche Sicherheitsmaßnahmen geschützt wird wie das Personal an Flughäfen. Etwa 60 Prozent der indischen Ärzte sind Frauen. Medizinisches Personal ist in Indien immer wieder Angriffen ausgesetzt, die Kliniken sind chronisch unterbesetzt, das Gesundheitssystem korrupt und stark überlastet. In den manchmal heruntergekommenen staatlichen Krankenhäusern werden die Ärzte von Menschen attackiert, die über die angebotene medizinische Versorgung verärgert sind.

Es war also der Schrecken über die Tat, der am Wochenende Hunderttausende zu Kerzenmärschen auf die Straßen trieb, aber auch die Wut auf eine Politik, die Stimmung macht, doch nicht an der notwendigen gesellschaftlichen Entwicklung arbeitet. Indien entwickelt sich rasant in die Moderne, wirkt andererseits in vielen Teilen des Landes noch sehr traditionell, manchmal rückständig. Das reicht von den Hindu-Hochzeitsritualen, bei denen die Frau quasi in den Besitz des Mannes und dessen Familie übergeht, bis zu allgegenwärtigen Belästigungsfällen, die bis in die hohe Politik reichen. Die olympischen Ringerinnen klagten vor zwei Jahren ihren Verbandsvorsitzenden wegen sexueller Übergriffe an, er konnte sich aber bis zu den Wahlen in diesem Jahr im Amt halten, weil er Stimmen für die regierende Bharatiya-Janata-Partei (BJP) brachte.

Ausschuss soll Ideen für besseren Schutz des Personals entwickeln

Seit mehr als zehn Jahren ist die BJP an der Macht, sie treibt den wirtschaftlichen Fortschritt im Land voran, ist ideologisch aber eher rückständig. Die BJP-Regierung forderte die Ärzte am Sonntag dazu auf, den Dienst wieder aufzunehmen, um Fälle von Denguefieber und Malaria zu behandeln, die aktuell zunehmen. Gleichzeitig wurde ein Ausschuss eingesetzt, der Maßnahmen zur Verbesserung des Schutzes des medizinischen Personals vorschlagen soll. Auf diese Ankündigung reagierten die Ärzte-Verbände in den Bundesstaaten unterschiedlich.

„Die Ärzte sind zu ihrer Routine zurückgekehrt“, sagte Madan Mohan Paliwal, der Leiter der Indian Medical Association im bevölkerungsreichsten Bundesstaat Uttar Pradesh, der mehr als 200 Millionen Einwohner hat. Er warnte allerdings: „Wenn die Regierung keine strengen Maßnahmen zum Schutz der Ärzte ergreift, werden wir über das weitere Vorgehen entscheiden.“ Prabhas Ranjan Tripathy, Leiter des All India Institute of Medical Sciences (AIIMS) in der östlichen Stadt Bhubaneswar, sagte, dass junge Ärzte und Assistenzärzte ihren Dienst noch nicht wieder aufgenommen hätten. Die AIIMS-Kliniken sind die staatlich finanzierten, auf die viele Hundert Millionen Menschen im Land angewiesen sind.

Das Krankenhaus, in dem die junge Frau vergewaltigt und ermordet wurde, war bereits am vergangenen Mittwoch verwüstet worden. Und es kam am Wochenende nicht nur zu Solidaritätsbekundungen mit den Ärzten, sondern auch zu Übergriffen von wütenden Patienten, die teilweise von weit her angereist waren, um sich untersuchen zu lassen. Der Fall wird nicht nur das Oberste Gericht in Delhi, sondern auch die indische Gesellschaft noch lange beschäftigen.

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