Indien:Der wütendste Mann des Landes

Indien: Auf der Jantar Mantar Road in Delhi wird oft demonstriert. An diesem Tag protestiert Paramjeet Singh Pamma (Mitte) gegen die Stadtverwaltung.

Auf der Jantar Mantar Road in Delhi wird oft demonstriert. An diesem Tag protestiert Paramjeet Singh Pamma (Mitte) gegen die Stadtverwaltung.

(Foto: Perras)

In Indien protestieren die Bürger oft, lautstark und gerne - etwa gegen Missstände wie sexuelle Gewalt oder Korruption. Besuch bei dem Dauer-Demonstranten Paramjeet Pamma in Delhi.

Von Arne Perras, Delhi

Die Jantar Mantar Road im Herzen der indischen Hauptstadt ist nicht wie jede andere Straße. Sie ist ein Ort, an dem sich die Leute treffen, um zu protestieren. Gründe dafür gibt es offenbar genug, ansonsten wäre die Straße nicht nahezu jeden Tag bevölkert, ständig gibt es hier kleinere oder größere Demonstrationen. Und einer, der sich damit besonders gut auskennt, ist Paramjeet Singh Pamma. Dieser Mann wurde in sozialen Medien als "wütendster Mann Indiens" bezeichnet, obgleich er jetzt, kurz bevor er loszieht, sehr freundlich und gar nicht aufgebracht aussieht.

Pamma ist eigentlich Ladenbesitzer, ein Sikh, er trägt einen orangenen Turban und lächelt milde. Aber seinem Ruf wird er jetzt gleich alle Ehre machen. Er hat eine Mission. Und die lautet, dass man Politikern auf der Straße einheizen muss, damit sie auch etwas für ihre Bürger tun. Nur wer mächtig Lärm mache, sagt er, werde auch gehört. Pamma ist geübt, er demonstriert, seit der 16 Jahre alt ist.

Der Schriftsteller V. S. Naipaul hat vor einigen Jahren ein Buch geschrieben mit dem Titel: "India: A Million Mutinies" - ein Land in Aufruhr. In dieser rastlosen Demokratie erheben überall Menschen lautstark ihre Stimme und fordern, dass man sie hört. Und sie dürfen es, der indische Staat lässt sie gewähren, es ist ihr Recht zu protestieren, weshalb jemand wie Pamma nichts auf seine indische Demokratie kommen lässt.

Was aber, wenn er in einer Diktatur leben müsste, wo Proteste verboten sind, wo er nicht auf die Straße gehen und den Politikern die Meinung geigen dürfte? "Wenn ich nicht mehr demonstrieren könnte, müsste ich mich erhängen", sagt Pamma.

Wie oft er schon auf die Straße gegangen ist? Genau kann er das nicht sagen, irgendwann hat er aufgehört zu zählen. Aber bei vielen Demonstrationen, die Fotografen im Laufe der Jahre eingefangen haben, taucht Pammas wutverzerrtes Gesicht ganz vorne in der ersten Reihe auf. Gegen zu hohe Zwiebelpreise. Gegen leicht bekleidete Sängerinnen im Fernsehen. Gegen Terror aus Pakistan. Gegen Überlastung der Krankenhäuser.

Manchen fällt es schwer, da noch eine Linie zu erkennen, sie wissen nicht so recht, ob sie einen wie Pamma, der stets auf großes Drama setzt, noch ernst nehmen sollen. Aber der 44-Jährige bestreitet, dass es ihm nur um die Show geht. Er demonstriere immer dann, wenn es gelte, die Interessen des einfachen Mannes zu verteidigen, sagt er. "Ich bin ein emotionaler Mensch. Wenn ich sehe, dass andere leiden, nimmt mich das mit. Dann muss ich raus und was tun." Manchmal schwingt der Sikh dabei auch martialisch zwei Säbel, um noch etwas wütender auszusehen. Schauspieler oder Aktivist? Die Meinungen über diesen Dauerdemonstranten gehen auseinander. Sicher ist, dass es in Indien eine sehr weit zurückreichende Geschichte des Protestes gibt; der Soziologe Dipankar Gupta von der Shiv Nadar-Universität nahe Delhi spricht von einer prägenden Erfahrung für die ganze Nation. Mahatma Gandhi führte einst den Protest gegen die Briten an, seither ist der Drang zur Demonstration nie erloschen. "Ich vermute, dass es den Stolz der Inder erheblich treffen würde, wenn sie auf einmal nicht mehr auf die Straße gehen und protestieren könnten."

Auffällig ist laut Gupta in neuerer Zeit, dass es nicht mehr in erster Linie die Ideologien politischer Parteien sind, die Menschen mobilisieren. Träger des Protests sind zivile Gruppen, die soziale Missstände anprangern, die gegen Korruption aufbegehren oder den Schutz der Frauen vor sexueller Gewalt einfordern. Nicht immer bringt dies schnelle Erfolge. "Aber nach den Protesten gegen die Vergewaltigungen hat der Staat immerhin neue Gesetze erlassen", sagt Gupta. Manchmal sehen die Leute also auch, dass sie mit ihrem Protest etwas bewegen.

Früher musste Paramjeet Pamma von Haus zu Haus laufen. Heute hat er WhatsApp

Auf der Jantar Mantar Road in Neu-Delhi tummeln sich kurz vor Mittag schon ein halbes Dutzend Gruppen, die sengende Hitze hält sie nicht ab. Auf der einen Seite fordern Veteranen der Armee ihre Pension. Gegenüber steht eine Gruppe Aktivisten, die nach Gerechtigkeit für ein vergewaltigtes Mädchen rufen. Ein Stück weiter liegen tibetische Exil-Mönche unter einem Zeltdach im Hungerstreik. Und im Schatten der großen Bäume sitzen Studenten, die wütend sind, weil es Probleme mit der Anerkennung ihres Abschlusses gibt. Nicht zu vergessen Herr Pamma, der an diesem Tag eine Gruppe zusammengetrommelt hat, um gegen Versäumnisse der Stadtverwaltung von Delhi zu protestieren.

Diesmal geht es um die Gesundheit: Das Dengue-Fieber macht sich breit in der Stadt, Kinder sterben, doch die Regierung in Delhi tut in den Augen vieler nicht genug, um die Leute vor der gefährlichen Krankheit zu schützen. "Schande über die Regierung von Delhi, nieder mit dem Dengue-Fieber" rufen sie und recken die geballte Faust in die Luft.

Keiner aber brüllt so laut wie Herr Pamma. Am Ende verbrennt er noch ein Bild mit einer bösen Stechmücke drauf. Da ist es wieder, das große Drama, das viele Inder lieben. Man wundert sich, dass der Mann nach all dem Gebrüll überhaupt noch eine Stimme hat. "Alles Training", sagt er später lächelnd und sieht schon wieder ganz freundlich aus.

Dass es inzwischen die digitalen Medien gibt, findet Pamma gut, weil es damit einfach geworden ist, Botschaften unters Volk und an die Politiker zu bringen. Früher musste er herumtelefonieren oder von Haus zu Haus gehen, damit es alle weitersagen. Jetzt verwendet er den Nachrichtendienst WhatsApp. "Leider blödeln die Leute im Internet zu viel herum und machen oft nur Witze", sagt er. Besser fände er es, wenn sie das Netz für ernste Anliegen nutzten.

Und wie schafft einer wie Pamma all diese Kundgebungen, wo er doch auch noch einen eigenen Laden für Nähzubehör betreibt? "Nun ja, mein Geschäft leidet schon", gibt er zu. Aber das hält ihn nicht ab, genauso wenig wie die Sorgen seiner Frau, die gar nicht will, dass er sich immer so aufregt auf der Straße. Sie hätte es lieber, dass er auch mal zu Hause bleibt. Zwei Herzinfarkte hat ihr Mann schon hinter sich. Und zwei Bypässe am Herzen. Seine Frau zittert jedes Mal, wenn er hier draußen ist, auf der Jantar Mantar Road, um sich die Lunge aus dem Leib zu brüllen. "Aber was soll ich machen" sagt er. "Ich kann nicht anders."

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