Coronavirus:Indien rollt Nothilfeprogramm für Wanderarbeiter aus

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Rast auf dem langen Marsch nach Hause: Weil keine Züge mehr fahren, müssen Millionen Wanderarbeiter zurück in ihre Dörfer laufen.

(Foto: Amit Dave/Reuters)

Fünf Kilogramm Getreide, ein Kilogramm Kichererbsen: Die Regierung in Delhi will etwa 80 Millionen gestrandete Menschen vor dem Tod bewahren. Kritiker fragen: Warum erst jetzt?

Von Arne Perras, Singapur

Der Bus von Pune bis nach Bhopal braucht laut Fahrplan 16 Stunden und 40 Minuten. Wenn es ihn denn gäbe. In Zeiten von Corona ist der reguläre Fernverkehr in Indien eingestellt, es fahren lediglich einige Sonderzüge für Arbeiter. Viel zu wenige, um alle Gestrandeten nach Hause zu bringen.

Also laufen die Leute, meist sind es einzelne Männer, manchmal ganze Familien. Manche sind schon vor Wochen aufgebrochen, auch auf der Strecke von Pune nach Bhopal. Das sind 800 Kilometer, bei 40 Grad im Schatten.

Die Times of India zeigte Mitte Mai Bilder von der "Karawane der Elenden". Dass es die Not der Ärmsten auf die Seite 1 einer indischen Zeitung schafft, ist eher selten, doch hier waren sie nun: Zum Beispiel eine 26 Jahre alte Mutter, die unter einem Baum nahe des Dorfes Balabheat ihr Kind zur Welt brachte.

Sie muss eine Strecke von 500 Kilometern laufend zurücklegen, wenn sie es jemals mit ihrem Neugeborenen bis nach Hause schaffen will. Hungrige und weinende Kinder; Menschen die am Wegrand erschöpft zusammensinken. Es war, als wollte die Zeitung ein Mahnmal drucken, das an die Leiden der Inder ganz unten erinnert.

Doch wer wird das gewaltige Vakuum füllen, um das Überleben der Gestrandeten zu sichern? Indiens Finanzministerin Nirmala Sitharaman rollte dafür jetzt ein Nothilfeprogramm aus, das etwa 80 Millionen Wanderarbeiter über die nächsten zwei Monate bringen soll, der Staat stellt dafür 425 Millionen Euro für sie bereit.

Konkret heißt das: Fünf Kilogramm Getreide und ein Kilogramm Kichererbsen für jede bedürftige gestrandete Familie pro Monat, das soll die schlimmste Not der Gestrandeten erst einmal bis Juli lindern.

Der wirtschaftliche Zusammenbruch - womöglich schlimmer als das Virus

Armut und Elend waren im Alltag Südasiens auch vor Corona kaum zu übersehen. Doch die Bilder vom Treck indischer Wanderarbeiter machen auf eine Dimension der Viruskrise aufmerksam, die kein anderes Land der Welt so hart und unerbittlich treffen dürfte wie Indien. Zwar ist die Zahl der Infizierten im Land inzwischen höher als in China, und das besorgt die Epidemiologen.

Doch zugleich gilt es, einen anderen, womöglich noch viel größeren Killer auf dem Subkontinent zu bekämpfen: die zusammengebrochene Wirtschaft hat Millionen Menschen an den Abgrund gedrängt, ein Netz sozialer Sicherungssysteme wie in den Wohlfahrtstaaten des Westens gibt es nicht. Die Leute müssen jeden Tag darum kämpfen, an das Nötigste zu gelangen. Und keiner weiß, wie lange sie das noch durchhalten.

Regierungschef bittet, sich um die Armen zu kümmern

Schon in Zeiten vor Corona lebten Millionen Wanderarbeiter von der Hand in den Mund, nur wenn sie Glück hatten, blieb ihnen etwas Geld übrig, das sie nach Hause in die Dörfer schicken konnten, zu ihren armen Familien. Doch der magere Lohn von umgerechnet zwei, drei oder auch mal fünf Euro am Tag, den ihnen zuvor die Schufterei auf Baustellen, Märkten und in Hinterhofwerkstätten einbrachte - ihn gibt es schon seit Wochen nicht mehr. Jetzt bekommen sie nur noch das in die Hand, was ihnen andere Leute mit Glück auf dem Weg zustecken.

Auch Narendra Modi hatte in einer seiner Fernsehansprachen darauf gedrängt: Kümmert euch um die Armen, so gut es geht, lautete sein Appell an alle Bürger Indiens. So ein Aufruf kostete ihn nicht viel, womöglich aber hat es tatsächlich geholfen, das Wort des Premiers, es wird gehört im Land. Manche allerdings mochten diesen Satz auch als Eingeständnis werten, dass der Staat mit der Krise überfordert ist und wohl nicht alle wird retten können.

Wie viele Inder schon erschöpft und ohne Hilfe gestorben sind, lässt sich unter den Bedingungen des Lockdowns kaum überschauen. Es gibt nicht einmal belastbare Schätzungen dazu.

In die Schlagzeilen schaffen es allenfalls die schrecklichen Unfälle auf Highways oder Bahntrassen. Zum Beispiel in Uttar Pradesh: Dort raste am Samstag ein Lastwagen in einen geparkten Truck, es starben 24 Wanderarbeiter.

Wenige Tage zuvor hatte ein Zug im Westen Indiens auf einer Bahntrasse 16 Menschen getötet, die dort nach langem Marsch erschöpft gelagert hatten und eingeschlafen waren. Mit regulären Zügen während des Lockdowns hatte niemand gerechnet, bis dann doch ein Güterzug angerast kam. Da war es für viele schon zu spät.

Die Hilfen sind zu gering und kommen zu spät, sagen Kritiker

Es sind Vorfälle wie diese, die in Indien die Sorgen nähren, dass der Hunger und das Elend bald mehr Menschen töten könnte als Covid-19. Die jüngsten staatlichen Hilfen für Wanderarbeiter gehören zu einem Rettungspaket, das Indiens Premier Narendra Modi Mitte Mai im Fernsehen ankündigt hatte, der Regierungschef nannte die Summe von 266 Milliarden Dollar, die der Staat investieren will, um die Ökonomie zu stützen und um Indien, wie der Premier sagte, zu mehr "Selbständigkeit" zu verhelfen. Nach und nach erst werden die Details bekannt.

Während die Dringlichkeit der Hilfen für die Wanderarbeiter niemand infrage stellt, macht sich doch auch Skepsis breit. Noch ist nicht klar geworden, wie die Bedürftigen schnell und unbürokratisch an die Hilfe gelangen sollen. Kritiker klagen außerdem, dass die Unterstützung zu gering ausfalle und zu spät komme.

Die Ökonomin Jayati Ghosh von der Jawaharlal Nehru University warf deshalb in der Zeitung The Hindu die Frage an die Regierung auf: "Wenn nun Nahrung umsonst an Wanderarbeiter ausgegeben wird, was hielt sie davon ab, dies schon vor sechs Wochen zu tun, als der Lockdown angekündigt wurde?" Das Blatt Indian Express kommt zu dem Schluss: Delhi hat die drohende Not der Wanderarbeiter von Anfang an unterschätzt.

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