Indien:Eine Million Ärzte streiken nach Ermordung einer Kollegin

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Ärzte und Sanitäter protestieren vor dem Büro des indischen Gesundheitsministers in Neu-Delhi gegen die Vergewaltigung und Ermordung einer angehenden Ärztin in einem staatlichen Krankenhaus in Kalkutta. (Foto: Manish Swarup/dpa)

In Kalkutta wird eine junge Ärztin in Ausbildung vergewaltigt und getötet. Nun legen landesweit eine Million Medizinerinnen und Mediziner für 24 Stunden die Arbeit nieder.

Wut und Trauer in der Ärzteschaft, Entsetzen in der Gesellschaft: Der gewaltsame Tod einer jungen Ärztin in Ausbildung hat in Indien eine neue Welle von Protesten ausgelöst. Es ist eine weitere Vergewaltigung, die das bevölkerungsreichste Land der Welt erschüttert. Nun erreicht der Protest eine neue Dimension: Am Samstag ab sechs Uhr (Ortszeit) haben Medizinerinnen und Mediziner landesweit ihre Arbeit für 24 Stunden niedergelegt. Es wird erwartet, dass sich mehr als eine Million Mediziner an dem Ausstand beteiligen.

Notdienste sollten jedoch nicht betroffen sein, hieß es von der Indian Medical Association. Die Krankenhäuser teilten mit, dass Lehrpersonal der medizinischen Hochschulen für Notfälle herangezogen wird. Die Demonstranten und Demonstrantinnen fordern sicherere Arbeitsbedingungen – und eine Bestrafung des Täters oder der Täter.

Das schon lange schwelende Problem wurde einmal mehr aktuell, als die Leiche der 31-jährigen Ärztin in Ausbildung am Freitagmorgen vergangener Woche gefunden wurde - in einem Seminarraum ihres Krankenhauses in der Millionenstadt Kalkutta. Die Frau soll dort nach einer langen Schicht geschlafen haben. Ihr Körper wies viele Verletzungen auf, eine Autopsie ergab Spuren sexueller Gewalt. Die Polizei nahm bislang einen Verdächtigen fest. Stimmen aus der Ärzteschaft berichteten, die Obduktion deute auf eine Gruppenvergewaltigung hin. Inzwischen wies das Oberste Gericht Kalkuttas eine indische Bundespolizeibehörde an, die Ermittlungen zu übernehmen.

Viele Mediziner erleben Gewalt, Frauen ganz besonders

"Frauen machen die Mehrheit unseres Berufsstandes in diesem Land aus", sagte der Präsident der Ärztekammer IMA, R. V. Asokan. "Immer wieder haben wir ihre Sicherheit gefordert." Mamata Banerjee, die Ministerpräsidentin des Bundesstaates Westbengalen, zu dem auch Kalkutta gehört, unterstützt die Proteste.

Sie prangern gleich zwei große Probleme an: Zum einen erleben Ärztinnen und Ärzte auf dem Subkontinent immer wieder Gewalt am Arbeitsplatz. Berichte häufen sich, wonach Angehörige angreifen – gerade wenn Patienten sterben. Bis zu 75 Prozent der Medizinerinnen und Mediziner seien etwa Drohungen, körperlichen Übergriffen ausgesetzt, hieß es in einer Studie der Indian Medical Association von 2019.

Zum anderen ist auch Gewalt gegen Frauen in dem patriarchisch geprägten Land mit 1,4 Milliarden Einwohnerinnen und Einwohnern verbreitet. Nach offiziellen Daten wird in Indien jede Viertelstunde ein neuer Vergewaltigungsfall gemeldet. Die tatsächliche Zahl dürfte dabei deutlich höher sein, wie Frauenrechtlerinnen immer wieder betonen. Aber das Stigma ist so groß, dass viele Opfer lieber schweigen. Ein Grund dürfte die Gesellschaft sein. Jedes Jahr werden Tausende weibliche Föten abgetrieben, Mädchen besuchen Schulen seltener als Jungen, und Töchter sind für Familien oft eine finanzielle Belastung - häufig müssen sie bei ihrer Heirat eine hohe Mitgift zahlen, obwohl dies inzwischen offiziell verboten ist.

Ein besonders brutaler Fall sorgte vor zwölf Jahren für schärfere Gesetze

Dringen allerdings besonders brutale Fälle sexueller Gewalt an die Öffentlichkeit, ist die Aufmerksamkeit groß – vor allem seit der Gruppenvergewaltigung einer 23-jährigen Studentin in einem fahrenden Bus in der Hauptstadt Delhi vor zwölf Jahren. Sie starb später in einem Krankenhaus. Auch damals gab es Massenproteste, was zu einer Verschärfung der Gesetze führte. Die vier Täter starben sieben Jahre später am Galgen - worauf Hunderte vor ihrem Gefängnis in der Hauptstadt Delhi jubelten.

Trotzdem trauen viele Inderinnen der Polizei und dem Justizsystem weiterhin nicht - besonders wenn sie einer tiefen Kaste angehören. Viele Fälle bleiben jahrelang liegen, manche Verdächtige kommen gar auf Kaution frei. Deshalb beteiligten sich zuletzt auch viele Frauen an den Protesten - von Jung bis Alt. Sie marschierten etwa in der Nacht zum Donnerstag, dem Tag der indischen Unabhängigkeit von den ehemaligen britischen Kolonialherren, und forderten ein Leben ohne Angst. In derselben Nacht randalierten Menschen in dem Krankenhaus, wo die Leiche der 31-jährigen Ärztin in Ausbildung vor rund einer Woche gefunden wurde. Die Polizei teilte bislang nicht mit, wer hinter dem Angriff steckte, sprach aber von Festnahmen.

Premierminister Narendra Modi griff den Fall in seiner Rede am Unabhängigkeitstag indirekt auf. „Die breite Masse ist wütend“, sagte der 73-Jährige. „Unser Land, unsere Gesellschaft und unsere Regionalregierungen müssen das ernst nehmen. Verbrechen gegen Frauen sollten mit einer größeren Dringlichkeit untersucht werden.“ Doch die Werte einer Gesellschaft ändern sich nur langsam.

Vielen Patienten standen am Samstag vor den Krankenhäusern Schlange – einige ohne zu wissen, dass sie wegen des Streiks vorerst keine medizinische Versorgung erhalten werden. "Ich habe 500 Rupien für die Reise ausgegeben, um hierherzukommen. Ich habe Lähmungen und ein brennendes Gefühl in meinen Füßen, meinem Kopf und anderen Körperteilen", sagte ein Patient des SCB Medical College Hospital in Cuttack einem lokalen Fernsehsender. "Wir waren uns des Streiks nicht bewusst."

© SZ/Reuters/dpa/liv - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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