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Impresario des Staatsterrorismus:Muammar al-Gaddafi - Fürst der Finsternis

Gaddafi ist tot, verscharrt in der Wüste. Er war der letzte große Befreiungstheologe und in seiner Bedeutung mit Che Guevara vergleichbar. Der sogenannte Revolutionsführer finanzierte die Eta, die IRA, Carlos, palästinensische Splittergruppen und über Umwege auch die RAF. Niemand hat so massiv in die Weltpolitik eingegriffen wie der Impresario des Terrors aus Libyen. Trotzdem pilgerten erst Schily und Kreisky, später dann Schröder, Blair, Putin, Sarkozy, Berlusconi und Condoleezza Rice zu ihm. Jetzt geht auch ein Kapitel des Staatsterrorismus zu Ende - Zeit, die Archive zu öffnen.

Willi Winkler

Muammar al-Gaddafi hatte wieder einmal zwei Dissidenten hinrichten lassen. Vor der Botschaft Libyens am St. James's Square in London, die neuerdings den undiplomatischen Namen "Libysches Volksbüro" führte, versammelten sich am 18. April 1984 ungefähr siebzig Exil-Libyer, um gegen Gaddafis staatlichen Mord zu protestieren. Das Volksbüro hatte eine Gruppe Gegendemonstranten aufgeboten und störte die Kundgebung mit lauter Musik. Plötzlich und ohne Vorwarnung kamen Maschinenpistolensalven aus der Botschaft. Elf Menschen wurden bei dem Angriff verletzt; Yvonne Fletcher, eine unbewaffnete Polizistin, wurde in den Bauch getroffen und starb eine Stunde später.

Der beinah vierzigjährige Krieg, den der sogenannte Revolutionsführer Gaddafi betrieb und der erst im Frühjahr 2011 zu Ende ging, galt nicht nur dem Westen, er wurde immer auch im Territorium des Feindes geführt. Am vergangenen Donnerstag, am Tag, als der zerfledderte Gaddafi aus der profanen Röhre gezerrt und schändlich gelyncht wurde, lief auf Arte Olivier Assayas' Film über den internationalen Terroristen Carlos. Weil zur Drehzeit niemand böser war als der bereits gehängte irakische Diktator Sad-dam Hussein, wird der zum Anstifter des Überfalls gemacht, den Carlos im Dezember 1975 auf das Treffen der Ölminister in Wien unternahm. Die Waffen dafür kamen jedoch aus der libyschen Botschaft. Carlos sollte im Auftrag des ölreichen Gaddafi dessen rabiate Preispolitik durch die Exekution konkurrierender arabischer Minister unterstützen.

Gaddafi - der letzte große Befreiungstheologe

Gaddafi war der letzte große Befreiungstheologe und in seiner Bedeutung nur mit dem längst heiliggesprochenen Che Guevara zu vergleichen. Er operierte weltweit und ließ seine Gegner notfalls auch im fernen Colorado hinrichten. Seine Einnahmen aus dem Ölgeschäft investierte er in Guerillakriege, den bewaffnete Gruppen gegen seine Kunden führten. Das Öl-Geld half, die baskische Befreiungsbewegung Eta und die Irish Republican Army (IRA) zu finanzieren - und unterstützte teilweise auch das Treiben der Frankfurter "Revolutionären Zellen". So ließ Gaddafi seine international tätigen Helfer 1986 einen Bombenanschlag auf die Berliner Diskothek "La Belle" unternehmen und rächte sich für den amerikanischen Vergeltungsangriff, indem er den Befehl gab, der 1988 zur Explosion einer PanAm-Maschine über der schottischen Ortschaft Lockerbie führte.

Staatsterrorismus mit solch ausgreifenden Aktionen ist kein neues Phänomen. Stalin ließ seinen Gegner Leo Trotzki in der ganzen Welt verfolgen, bis ihn Ramón Mercader schließlich 1940 in Mexiko zur Strecke brachte. Der Staatsbankpräsident Dr. Ernesto Guevara verließ 1965 mit dem Vorsatz, "zwei, drei, viele Vietnams" zu schaffen, das im Guerillakrieg eroberte Kuba, um die Revolution erst nach Afrika, dann nach Südamerika zu tragen. Der islamistische Iran, das kommunistische Nordkorea, das zeitweise linksnationale Syrien und Irak haben immer wieder Anschläge in Nachbarländern, aber auch im Westen unterstützt. Libanon ist bis heute ein von ausländischen terroristischen Hilfstruppen zerteiltes Land.

Doch hat niemand so massiv in die Weltpolitik eingegriffen wie der Impresario des Terrors aus Libyen. Die IRA, die gegen die britischen Soldaten in Nordirland kämpfte, hätte ohne die logistische Unterstützung Gaddafis ihren Krieg nicht über Jahrzehnte führen können.

Für das Kind einer schriftunkundigen Beduinenfamilie, das in einer ehemaligen italienischen Kolonie geboren war, führten die Iren einen Kolonialkrieg, nur dass es diesmal gegen die Besatzer ging. Libyen solidarisierte sich mit den antibritischen Iren, bekannte sich sogar offen zur Lieferung von Bomben, die in Belfast und London explodierten und über die Jahre Hunderte Menschen töteten und verstümmelten, dennoch konnte die englische Polizei nur einen Teil der angelandeten Waffen abfangen. Sie wurden in der Irischen See zu Wasser gelassen und trieben in Schlauchbooten auf das Ufer zu. Portioniert wurden die Sendungen zu Verstecken in der Republik Irland verbracht, bis sie Verwendung in einem weiteren Attentat gegen Polizeistationen und Grenzposten fanden. Allein 1985/86 wurden an der irischen Ostküste südlich von Dublin 136 Tonnen Waffen und Munition gelöscht. Zusätzlich erhielten die Rebellen zwei Millionen Pfund Taschengeld.

Schutzgelder von Airlines?

Gaddafis Engagement in diesem umgedrehten Kolonialkrieg begann bereits Mitte der siebziger Jahre. So finanzierte er zeitweise die Umtriebe des international operierenden Terror-Kapos Wadi Haddad, ohne dessen Hilfe wiederum die Rote Armee Fraktion (RAF) zu den Mordtaten des Terror-Jahres 1977 gar nicht in der Lage gewesen wäre. Der Palästinenser Haddad führte mit Hilfe japanischer, deutscher und natürlich arabischer Söldner den Krieg gegen Israel weiter, den Jassir Arafat 1974 offiziell aufgab. Haddad spezialisierte sich auf Flugzeugentführungen; wer davon verschont bleiben wollte, wie die staatlichen Fluggesellschaften Lufthansa, Swissair oder die Japan Air Lines, musste angeblich Schutzgeld bezahlen (ein bis heute nicht aufgeklärtes Kapitel).

Die Air-France-Maschine, die Brigitte Kuhlmann und Wilfried Böse 1976 entführten, wurde im libyschen Bengasi aufgetankt, ehe sie bei dem mit Gaddafi befreundeten Idi Amin in Entebbe landete. In einem zeitgenössischen CIA-Bericht heißt es: "Die extremistischen Ansichten und Grundsätze, die Gaddafi und Haddad teilen, die buchstäblich unbegrenzten finanziellen Mittel, die dem einen zur Verfügung stehen, und die strategischen Fertigkeiten des anderen gehen dabei eine furchterregende Verbindung ein."

Der Revolutionsführer verstand sich erfolgreich zu inszenieren. 1982 pilgerten die revolutionssentimentalen Grünen, angeführt vom späteren SPD-Sicherheitsminister Otto Schily, ehrfürchtig zu Gaddafis immer wieder gern gezeigten Wüstenzelt, da der Operetten-Guerillero einen "Dritten Weg" anzubieten schien und als Schirmherr oder ideeller Clan-Chef der "Dritten Welt" auftrat. Bruno Kreisky, seinerseits um eine Rolle zwischen den Großmächten bemüht, warb regelrecht um den Mann, dessen Gesandter Carlos 1975 die österreichische Regierung erpresst hatte. Gaddafi wurden schließlich sogar die schlimmsten Mordtaten wenn nicht verziehen, so doch großzügig nachgesehen. Schließlich verfügte er über immer noch reiche Vorräte an erstklassigem Öl und hielt sein Land so unterstrukturiert, dass sich für Investoren gigantische Möglichkeiten auftaten.

Nach zähen Verhandlungen war es jetzt Gaddafi, der sich mit Abstandszahlungen versicherte: Er zahlte für die Hinterbliebenen des Lockerbie-Anschlags, er zahlte für den Abschuss eines französischen Flugzeugs und bot sich als Mittelsmann an. In einer erstaunlichen Prozession buhlten Tony Blair, Gerhard Schröder, Wladimir Putin, Nicolas Sarkozy und Silvio Berlusconi um ihn. Im Umgang mit Gaddafi konnte selbst die Hardlinerin Condoleezza Rice so weich werden, dass er sie in mehreren Botschaften zärtlich umschnurrte.

In einem Interview, das er dem Chefredakteur der Zeit zum Thema RAF gab, sprach der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt 2007 auf ungewohnt kryptische Weise den "Staatsterrorismus" als größte Gefahr an. Den Angriff auf das World Trade Center kann er nicht gemeint haben, denn trotz gegenläufiger amerikanischer Propaganda handelte Osama bin Laden als Freischärler. Gaddafi wurde immerhin von der Sowjetunion mit den Waffen beliefert, die in London, vielleicht auch Berlin, vielleicht auch bei der RAF zum Einsatz kamen. Da gäbe es noch manches aufzuklären, was schon aus Scham über die zeitweilige Kumpanei mit dem libyschen Übelmann aufs Sorgfältigste sekretiert ist.

Natürlich ist es nur ein Zufall, dass die Eta genau am Todestag Gaddafis, selbstverständlich nicht, ohne sich mit sozialistischen Kämpfergrüßen zu verabschieden, die "definitive Beendigung unserer bewaffneten Aktionen" bekanntgegeben hat. Es wäre also an der Zeit, an dieser kleinen Zeitenwende die Archive zu öffnen und das geheimdienstliche Wissen über den Staatsterrorismus offenzule-gen.

Es wird im finanzmarktgeschüttelten Westen kaum jemand geben, der sich nicht über den Tod Gaddafis gefreut hätte. Aber für einige Weltpolitiker wäre eher eine stille Andacht für den toten Revolutionsführer angemessen. Vielleicht versammeln sich ja die Herren Schily, Schröder, Blair, Berlusconi, Putin und Sarkozy gemeinsam mit Condoleezza Rice an einem geheimen Ort und gedenken des Mannes, dem sie beizeiten so eifrig den Hof machten.

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Quelle:
SZ vom 25.10.2011/lala
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