Implant Files:"Sie fragten nicht einmal nach der Sicherheit unseres lächerlichen Produkts"

Implant Files - die Journalistin Jet Schouten

Die Journalistin und das Mandarinennetz: Szene aus dem Dokumentarfilm "All Meshed Up, From Mandarin Bag to Medical Implant" (Avrotros, 2015) mit Jet Schouten.

(Foto: Screenshot)

Die Journalistin Jet Schouten hat mit einem Mandarinennetz-Experiment die weltweite Implant-Files-Recherche angestoßen. Ein Gespräch über hilflose Patientinnen und ein krankes System.

Interview von Daniela Prugger

Implantate verbessern das Leben vieler Menschen - doch immer wieder bringen Firmen auch nutzlose oder sogar gefährliche Geräte auf den Markt. Wie krank das System zur Qualitätssicherung ist, hat die niederländische TV-Journalistin Jet Schouten gezeigt. Sie nahm ein einfaches Mandarinennetz, gab es als Vaginalnetz aus - ein Medizinprodukt, das Frauen mit Beckenbodenbeschwerden implantiert wird - und schaffte es, von drei Prüfstellen die Zulassung in Aussicht gestellt zu bekommen. Zwei Jahre später wandte sie sich an das International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) und initiierte die weltweite Implant-Files-Recherche.

SZ: Frau Schouten, im Jahr 2012 erhielten Sie einen Brief, in dem eine Zuschauerin von ihren Schmerzen berichtete. Sie trug ein Implantat, ein Vaginalnetz. Sie arbeiten für Radar, ein TV-Programm, das sich an Verbraucher richtet, und bekommen jeden Tag Zuschriften Ihres Publikums. Was war an diesem Brief besonders?

Jet Schouten: Es war die furchtbare Geschichte einer Frau, die sofort nach der Implantation des Vaginalnetzes merkte, dass etwas in ihrem Beckenbereich nicht stimmte. Sie beschrieb, wie sie darum flehte, dass man ihr das Implantat entfernt. Aber der Arzt sagte nur: "Nein, Sie müssen warten. Die Schmerzen sind normal. In einigen Wochen nehmen wir es heraus." Aber das passierte nicht.

Warum wurde es nicht entfernt?

Es war verwachsen und steckte fest. Ich rief bei der niederländischen Gesundheitsbehörde an und fragte, ob Probleme mit diesem Implantat bekannt seien. Man sagte mir: Nein. Aber als wir Ende 2012 zum ersten Mal in unserer Sendung davon berichteten, wurden wir von Telefonanrufen überflutet. Lauter Frauen, die von ähnlichen Problemen berichteten. Oder Frauen, die sagten: Man hat mir nicht gesagt, dass ich so ein Vaginalnetz in mir trage.

Wie meinen Sie das: Den Frauen wurde nicht gesagt, dass sie ein Implantat eingesetzt bekommen haben?

Wir waren genauso schockiert. Uns haben Frauen angerufen und gesagt: Ich habe die Sendung gesehen und verstehe nun, warum ich Schmerzen habe. Die Frauen, die uns das erzählten, waren zuvor beim Arzt. Dort bekamen sie zwei Optionen: eine klassische Operation, von der man sich langsam erhole, und die neue, bessere, schnellere Methode. Von einem Implantat sei keine Rede gewesen. Erst ab dem Jahr 2020 werden alle Patienten in den Niederlanden verpflichtend einen Ausweis für ihr Implantat bekommen.

Diese Implantate sind als Medizinprodukte registriert. Sie haben die Industrie durchleuchtet. Was hat Sie am meisten erstaunt?

Der Umstand, wie wenige Tests erforderlich sind, bevor man Implantate mit hohem Risiko, die oft permanent im Körper bleiben, auf den Markt bringen kann. Und ich war erstaunt darüber, wie man Produkte designen kann, die man in einen Körper implantiert, ohne darüber nachzudenken, wie man sie wieder rausbekommt. Zum Beispiel einen Herzschrittmacher oder das Vaginalnetz oder Essure (Anm.: eine Sterilisations-Spirale). Essure wurde jungen Frauen implantiert - permanent. Dabei weiß man doch, dass es immer eine Reaktion gibt zwischen Implantat und Körper. Es ist unglaublich, dass es dafür keine Explant-Strategie gibt.

So erreichen Sie uns

Wenn Sie Fragen zum Thema Implantate oder Medizinprodukte haben, können Sie sich bei Ihrem Arzt melden oder bei der SZ. Sie erreichen uns per E-Mail unter implantfiles@sz.de.

Wann haben Sie erkannt, wie groß diese Geschichte wird?

Das war, nachdem ich Telefonanrufe bekam - von Patienten und Journalisten aus anderen Ländern, manchmal auch von Anwälten. Sie sagten: Wir haben dasselbe Problem, können wir eure Dokumente nutzen? Da ist mir bewusst geworden, dass es sich um ein weltweites Problem handelt mit den gleichen Behördenfehlern, den gleichen Patientengeschichten und dem gleichen Mangel an Transparenz. Und in Europa fällt das alles nicht auf, weil es keine öffentliche Datenbank gibt.

Während Ihrer Recherchen haben Sie die Industrie und die Benannten Stellen, die Prüfunternehmen für solche Gerätschaften, selbst auf die Probe gestellt. Mit einem Mandarinennetz. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?

Ich habe mit einem Experten gesprochen, mit Carl Heneghan, er ist Professor in Oxford. Wir wollten verstehen, wie die Zulassung funktioniert. Carl und ich haben absichtlich ein fehlerhaftes Produkt entwickelt. Dafür habe ich gelernt, wie man eine technische Dokumentation erstellt. Wir haben Fehler eingebaut, um herauszufinden, ob die Benannten Stellen, die das CE-Zertifikat vergeben, auf die Sicherheit des Designs und des Produkts achten. Ich habe die Frauen, die ein Vaginalnetz hatten, gefragt, wie das aussieht, und sie meinten zu mir: so wie das Material von einem Mandarinennetz. Und ich dachte: Okay, das machen wir. Wir haben Fotos gemacht in Schwarz-Weiß und unser eigenes Produkt gestaltet.

Obwohl das Produkt fehlerhaft war, deuteten drei Benannte Stellen an, dass es mit der Zulassung keine Probleme geben würde.

Um ein neues Produkt schneller auf den Markt zu bekommen, orientieren sich viele Hersteller an bereits zugelassenen Produkten. Für die technische Dokumentation kopiert man die Daten, die vorhanden sind, und das war's. Aber unser Vaginalnetz hatte acht Arme, zwei mehr als die üblichen Produkte am Markt. Das war ein Schock, als wir hörten: Dem CE-Zeichen steht nichts im Weg.

Implant Files: Jet Schouten

Jet Schouten

(Foto: Jet Schouten / Avrotos)

Was glauben Sie, was die Benannten Stellen dann erreichen wollen?

Das ist eine Business-to-Business-Beziehung. Wir waren die Kunden, mit denen sie Geld verdienen können. Wir haben über den Preis verhandelt und sogar darüber, welche Tests wir nicht machen müssen, damit die Zulassung unseres Produktes schneller geht. Es geht hier nicht um Patientensicherheit. Es ist ein Geschäft.

Wie haben die Prüffirmen auf Ihre Undercover-Recherche reagiert?

Die Reaktion war sehr heftig. Manche sagten: "Stoppen Sie die Show. Das ist nicht wahr." Manche wollten uns verklagen. Nur einer kam, hat sich mit uns hingesetzt und unterhalten. Er sagte: Sie haben in manchen Dingen recht. Das fand ich großartig. Aber allgemein kippte die Kritik recht bald in die Argumentation, dass wir das CE-Zeichen ja sowieso nicht bekommen haben. Und das stimmt, denn der Zulassungsprozess besteht aus zwei Phasen. In der ersten wird die technische Dokumentation begutachtet, in der zweiten die Herstellerfabrik. Und wir hatten ja keine Fabrik. Aber in unseren Gesprächen mit den Benannten Stellen sagte man uns: Wir sehen bei der Zulassung kein Problem. Sie fragten nicht einmal nach der Sicherheit unseres lächerlichen Produkts.

Ist es ein Einzelfall, dass kein Arzt der Frau helfen wollte, die sich damals wegen des festgewachsenen Vaginalnetzes bei Ihnen gemeldet hat?

Leider nicht. Viele Frauen haben uns angerufen und um Hilfe gebeten. Auch sie fanden keine Ärzte, die das Vaginalnetz bei Komplikationen entfernen konnten. Aber die Frau, die uns den Brief geschickt hat, war für uns ein Spezialfall. Ich hab sie am Anfang der Recherche für die Sendung interviewt. Und einen Tag nach der Ausstrahlung hat der Arzt den Termin zur Herausnahme des Vaginalnetzes abgesagt. Sie rief mich weinend an.

Warum wurde der Termin abgesagt?

Sie sagte, dass der Arzt wütend darüber gewesen sei, dass sie im Fernsehen über ihre Probleme gesprochen habe. Für unsere Recherche haben wir keinen Gynäkologen gefunden, der mit uns reden wollte. Die, die implantiert haben, haben sogar die Telefongespräche verweigert. Ich habe den Arzt angerufen und ihn gefragt, warum dieser Termin abgesagt wurde. Er war sehr feindselig und sagte: Es sei keine notwendige Operation. Wenn es ein Notfall sei, dann könne die Patientin in die Notaufnahme gehen.

Am Ende haben Sie einen Spezialisten in Los Angeles gefunden, der das Vaginalnetz entfernt hat. Die Operation hat fast 20 000 Euro gekostet. Dafür haben Sie eine Crowdfunding-Aktion gestartet. Haben Sie als Journalistin da eine rote Linie überschritten?

Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, dass ihr Termin wegen unserer Show abgesagt wurde. Wir fühlten uns einfach verantwortlich für sie, eine junge Frau mit Kindern. Es gab auch keinen Arzt in den Niederlanden oder Nachbarländern, der sich getraut hat, das Netz zu entfernen. Also haben wir Geld für den Eingriff gesammelt, das war schwierig, weil wir ein öffentlich-rechtlicher Sender sind. Und dafür wurden wir stark kritisiert. Heute hat sie trotz der Operation noch immer Schmerzen. Aber es geht ihr besser.

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