Implant Files:So lief die Recherche

Implant Files: Fast zwei Jahre lang haben mehr als 250 Journalisten aus 36 Ländern Unterlagen analysiert und unzählige Patienten und Experten gesprochen. Im Bild: Die SZ-Journalisten Mauritius Much und Katrin Langhans bei der Arbeit.

Fast zwei Jahre lang haben mehr als 250 Journalisten aus 36 Ländern Unterlagen analysiert und unzählige Patienten und Experten gesprochen. Im Bild: Die SZ-Journalisten Mauritius Much und Katrin Langhans bei der Arbeit.

(Foto: Stefanie Preuin)

Wie kamen die Implant Files zustande? Warum sind die Informationen daraus so wichtig? Und wie geht es jetzt weiter? Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Von Katrin Langhans und Frederik Obermaier

Die Implant Files sind ein internationales Rechercheprojekt. Es beleuchtet den Schaden, den unzureichend geprüfte Implantate und andere Medizinprodukte weltweit anrichten. Fast zwei Jahre lang haben mehr als 250 Journalisten aus 36 Ländern Unterlagen analysiert und unzählige Patienten und Experten gesprochen, um herauszufinden, wie Medizinprodukte getestet, zugelassen und vermarktet werden.

Was ist das Hauptergebnis der Recherche?

Weltweit werden jährlich Hunderttausende Menschen in Verbindung mit fehlerhaften Implantaten, Prothesen oder Operationsrobotern verletzt, Tausende sterben. Das Implantationssystem ist manipulierbar, fehlerhaft und korrupt. Immer wieder werden Produkte implantiert, die nicht ausreichend getestet werden. Patienten werden darüber nicht ausreichend informiert - und wenn sie sich informieren wollen, stoßen sie oftmals auf eine Mauer des Schweigens.

Nur in etwa 20 Prozent aller Länder weltweit gibt es öffentliche Datenbanken mit Informationen über Sicherheitswarnungen und Rückrufe von Medizinprodukten. Behörden lassen Patienten weitgehend im Stich - und überlassen es überwiegend den Herstellern selbst, die Patienten zu informieren und weiteren Schaden zu verhindern. In den USA hat die Aufsichtsbehörde FDA seit 1976 nur zwei Produkte vom Markt genommen, in Deutschland haben die Behörden seit 2010 lediglich sechs Medizinprodukte per Anordnung zurückgerufen.

Gleichzeitig versuchen Lobbyisten weltweit, strengere Regeln zur Zulassung von Implantaten und Prothesen zu verhindern - oftmals mit Erfolg.

Warum sind die Informationen aus den Implant Files so wichtig?

So gut wie jeder Mensch kommt irgendwann in seinem Leben mit Medizinprodukten in Berührung, sei es, weil bei einer Operation ein Skalpell an sie angelegt wird, oder sei es, weil ihnen Ärzte einen Herzschrittmacher oder ein künstliches Gelenk einsetzen. Hunderte Millionen Menschen tragen Implantate in ihrem Körper. Herzschrittmacher, Hirnschrittmacher und Hüften können Leben retten, verlängern oder erheblich erträglicher machen. Wenn diese Teile aber nicht ausreichend getestet oder falsch designt sind, können sie lähmen, vergiften und im schlimmsten Fall sogar töten. Allein in Deutschland gab es seit 2008 mehr als 1000 Todesfälle, bei denen der Verdacht im Raum stand, dass Medizinprodukte damit zu tun gehabt könnten. In den USA gab es im gleichen Zeitraum 82.000 Todesfälle, bei denen ein Zusammenhang mit Medizinprodukten vermutet wird.

Wer hat das Projekt angestoßen?

Die Implant-Files-Recherche entstand auf Initiative der niederländischen TV-Journalistin Jet Schouten. Sie hatte sich vor fast vier Jahren für eine Recherche als Herstellerin von Medizinprodukten ausgegeben und es geschafft, von drei Prüfstellen die Zulassung eines herkömmlichen Mandarinennetzes als Medizinprodukt in Aussicht gestellt zu bekommen. Sie hatte es durch eine sehr technisch klingende Broschüre in ein Vaginalnetz umgedeutet, das Frauen mit Beckenbodenbeschwerden Linderung verschaffen sollte.

So erreichen Sie uns

Wenn Sie Fragen zum Thema Implantate oder Medizinprodukte haben, können Sie sich bei Ihrem Arzt melden oder bei der SZ. Sie erreichen uns per E-Mail unter implantfiles@sz.de.

Schouten wandte sich vor etwa zwei Jahren an das International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ), das in der Vergangenheit auch die von der Süddeutschen Zeitung initiierten Großrecherchen Panama Papers und Paradise Papers koordiniert hatte. In Deutschland waren die SZ, der Norddeutsche Rundfunk und der Westdeutschen Rundfunk an den Recherchen zu den Implant Files beteiligt.

Was ist das ICIJ, und wie wird es finanziert?

Das ICIJ, gegründet 1997, ist eine gemeinnützige Medienorganisation, die wie eine Art internationaler Verein für investigative Journalisten zu verstehen ist. Ihr gehören weltweit etwa 200 Journalisten an, darunter auch vier SZ-Reporter (Frederik Obermaier, Bastian Obermayer, Hans Leyendecker und Georg Mascolo). Das ICIJ finanziert sich über Spenden - unter anderem von der Ford Foundation, dem Omidyar Network von Ebay-Gründer Pierre Omidyar, der Adessium Foundation, der von George Soros gegründete Open Society Foundation sowie der Hollywood Foreign Press Association, die auch die Golden Globes verleiht. Bis Januar 2017 hatte das ICIJ zum Center for Public Integrity (CPI) gehört, einer gemeinnützigen US-Organisation für Investigativjournalismus.

Können die Spender des ICIJ bei Projekten mitreden? Nein. Das ICIJ informiert seine Spender über die Art der geplanten Recherchen und von Fall zu Fall auch über das übergreifende Thema, nicht aber über die spezifische Recherche. Die mitrecherchierenden Partner - dieses Mal 59 Medien - sind vollkommen frei in der Auswahl ihrer Themen und Geschichten.

Müssen mitrecherchierende Medien Geld bezahlen, um mitmachen zu dürfen?

Nein.

Was unterscheidet die Implant Files von früheren ICIJ-Projekten wie den Panama Papers?

Die Panama Papers, auch die Paradise Papers, basierten auf Leaks: Whistleblower hatten der Süddeutschen Zeitung Daten zugespielt, die mehrere Hundert Journalisten dann ausgewertet haben. Bei den Implant Files gibt es kein Leak. Die beteiligten Journalisten haben vielmehr mit Hilfe von Experten und Informanten den Markt der Medizinprodukte beleuchtet. Das Implant-Files-Team interviewte Patienten und Ärzte von Mumbai bis München, von Mostar bis Mexiko-Stadt.

Weltweit haben die an der Recherche beteiligten Journalisten mehr als 1000 Anfragen an Behörden und Unternehmen gestellt, in einigen Fällen wurde auch Klage eingereicht, um Zahlen zurückgerufener Implantate, zu Sicherheitshinweisen sowie Statistiken von Toten und Verletzten zu bekommen. Nur wenig Information war öffentlich verfügbar, zahlreiche Behörden mauerten.

Was waren die größten Hürden in Deutschland?

Ob das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information, diverse Landesgesundheitsämter oder das Bundesgesundheitsministerium - so gut wie alle Behörden, die in Deutschland mit Medizinprodukten zu tun haben, beantworteten Anfragen nicht, nur unvollständig oder mit teils mehreren Wochen Verzug.

Allein um die Unterlagen zu einem einzigen Herzschrittmacher vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), einer dem Bundesgesundheitsministerium nachgeordneten Behörde, zu erhalten, mussten von der Süddeutschen Zeitung beauftragte Anwälte mehrmals intervenieren. Die Dokumente waren teils so massiv geschwärzt, dass sich der Sinn des Inhalts nicht mehr erschloss. Mehrmals beschwerte sich die Behörde, man lege ihre Arbeit lahm. Es dauerte insgesamt weit über ein Jahr, bis die Unterlagen bei der SZ eintrafen. Als die SZ dem BfArM erklärte, man wolle Transparenz für Bürger herstellen, erwiderte das Bundesamt: Die Information der Öffentlichkeit sei "nicht einmal teilkongruent" mit der Aufgabe des Amtes.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) lehnte mehrere Interviewanfragen ab. Man solle Fragen schicken. Als NDR, WDR und SZ dies taten, antwortete sein Sprecher: "Bitte konzentrieren Sie sich auf die wichtigen Fragen." Erst die wurden dann teilweise beantwortet.

Ähnliche Erfahrungen machten auch Implant-Files-Partner in anderen Ländern.

Was ändert sich durch die Implant Files?

Das ICIJ veröffentlicht im Zuge der Implant Files die International Medical Devices Database: eine Datenbank zu Sicherheitswarnungen und Rückrufen von Implantaten und Prothesen weltweit. Unter https://medicaldevices.icij.org sind mit wenigen Klicks alle Rückrufe und Warnungen zu einzelnen Ländern verfügbar. Die Datenbank enthält schon jetzt mehr als 70 000 Dokumente aus rund zehn Ländern, die bisher größtenteils nicht öffentlich verfügbar waren, und soll in den nächsten Wochen noch anwachsen.

Wer in der International Medical Device Database oder anderswo auf Rückrufe oder Warnhinweise zum eigenen Implantat stößt, sollte mit einem Arzt und dem Patientenberater der Krankenkasse sprechen.

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Übersicht
:Was Sie über die Implant Files wissen müssen

Medizinprodukte werden kaum getestet, Zwischenfälle und Mängel häufig vertuscht: die zehn wichtigsten Ergebnisse der großen Implant-Files-Recherche.

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