SZ: Sie kämpfen als Rechtsanwältin seit 23 Jahren vor Gericht für Patienten und Krankenkassen um Schadenersatz, wenn zum Beispiel Herzschrittmacher ausfallen oder künstliche Hüftgelenke brechen. Wenn Sie selbst ins Krankenhaus müssten, weil Sie ein Medizinprodukt brauchen: Würden Sie darauf vertrauen, dass das Gerät, das man Ihnen implantieren möchte, gut getestet ist?
Ruth Schultze-Zeu: Nein, absolut nicht. Wer ins Krankenhaus geht, hat keine Sicherheit und keine Garantie, dass ihm ein Gerät eingesetzt wird, das fehlerfrei ist und eine gute Qualität hat. Medizinprodukte kommen oft mit unzureichenden Tests am Patienten auf den Markt und versagen dann in der Praxis.
Wie würden Sie sich vor der Operation informieren?
Ich würde den Operateur fragen: Wie lange ist das Produkt schon auf dem Markt? Gibt es Langzeitstudien? Und wenn ja: mit welchem Ergebnis? Was empfehlen Fachgesellschaften? Ich würde vorher fragen, welches Modell mir eingesetzt wird. Auf der Internetseite des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) kann man dann unter dem Punkt "Maßnahmen von Herstellern" nachsehen, ob es zu dem Medizinprodukt schon einen Rückruf oder einen Sicherheitshinweis gab.
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Dann kann ich da also nachschauen , ob mein Hüftmodell gut ist?
Leider nicht. Da werden nur die Hinweise der Hersteller veröffentlicht, wenn er mit einem Produkt schon erhebliche Probleme hatte. Was ich als Patient aber gerne wüsste, ist: Welche Komplikationen gab es bisher überhaupt im Zusammenhang mit meinem Modell? Waren es mehr oder weniger als bei Vergleichsprodukten? Diese Problemberichte von Geräten reichen Ärzte und Hersteller bei der Bonner Gesundheitsbehörde BfArM ein. Dort werden diese Berichte in einer Datenbank erfasst, diese Informationen sind aber nicht öffentlich.
Können Sie das nachvollziehen?
Nein, das ist für mich nicht nachvollziehbar. Hier geht es um Geräte, die unser Leben retten sollen, da wüsste ich schon gerne über alle gemeldeten Probleme Bescheid. In Amerika sind die Berichte der gefährlichen und zum Teil ja sogar tödlichen Zwischenfälle öffentlich.
Würde Ihnen eine öffentliche Datenbank die Arbeit erleichtern?
Aber sicher, ich könnte schauen, wie viele andere Patienten in Deutschland dieselben Probleme haben wie meine Mandanten.
Nehmen wir mal an, ich trage einen defekten Herzschrittmacher und mein Arzt sagt, ich müsse noch einmal operiert werden. Worauf sollte ich achten, wenn ich erwäge, den Hersteller des womöglich fehlerhaften Geräts auf Schadenersatz zu verklagen?
Sie sollten dem Operateur vor der Explantation, also bevor er den Schrittmacher rausoperiert, sagen: Ich bin Eigentümer des Herzschrittmachers und möchte ihn mit nach Hause nehmen. Das ist Ihr gutes Recht. Ihnen gehört das Gerät von dem Moment an, in dem es in Ihren Körper implantiert wurde. Und Sie brauchen es später, um ein neutrales Gutachten anfordern zu können. Um einen Schmerzensgeldanspruch durchzusetzen, müssen Sie als Patient den Beweis führen, dass ein Gerät einen Fehler aufweist. Sie haben sogar einen Anspruch darauf, dass Ihre Krankenkasse das Gerät kostenlos untersuchen lässt.
Weiß der Operateur das nicht?
In etwa der Hälfte der Fälle werfen Ärzte die Produkte einfach weg, das ist meine Erfahrung, weil sie schlecht informiert sind. Oder die Kliniken schicken sie an den Hersteller. Manchmal nimmt ein Mitarbeiter des Herstellers das Gerät sogar direkt im Operationssaal einfach mit, um es zu untersuchen. Es heißt dann manchmal, das Gerät sei leider auf dem Weg kaputtgegangen oder es könne nach der Prüfung nicht mehr zusammengebaut werden.
Sie haben vor drei Jahren einen Fall durch mehrere Instanzen gefochten, obwohl die Patienten, Ihre Mandanten, die defekten Geräte nicht mehr in Besitz hatten. Vor dem Europäischen Gerichtshof haben Sie dann ein bahnbrechendes Urteil erstritten.
Es handelte sich um einen Herzschrittmacher, der eine hohe Ausfallquote hatte, weil ein Bauteil von schlechter Qualität war. Im Prozess ging es um die Frage, ob man einen Produktfehler wirklich am einzelnen Gerät nachweisen muss, wenn klar ist, dass ein Serienschaden vorliegt. Den hatte der Hersteller zuvor selbst kommuniziert. Der Europäische Gerichtshof hat ganz klar gesagt: Wenn ein Medizinprodukt zu einer Serie gehört, die Gegenstand eines Rückrufes oder eines Sicherheitshinweises war, dann kann man annehmen, dass auch das konkrete Medizinprodukt fehlerhaft ist.
Und jetzt rennen Ihnen die Patienten die Bude ein?
(lacht): Ja, das könnte man so sagen. Das Urteil hilft uns als Druckmittel. Wir einigen uns seither meistens außergerichtlich. Die Hersteller sind nicht daran interessiert, dass es zu viele Entscheidungen gibt, die das neue Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 5. März 2015 bestätigen. Und Patienten sowie Krankenkassen wollen schnell an ihr Geld kommen. Prozesse können sich ja über Jahre hinziehen, viele Patienten haben diese Zeit oft gar nicht mehr.
Weil sie zu alt sind und sterben?
Ja, so ist es leider. Hinzu kommt: Wer klagt, muss erst mal die Gerichtskosten zahlen, die Sachverständigenkosten, die Anwälte. Man braucht also erst mal sehr viel Geld, um dann nach zwei oder vier Jahren zu gewinnen. Wir verzichten dann auf zehn bis dreißig Prozent der Schadenssumme, die wir vor Gericht erzielen könnten. Aber dafür haben wir schnell das Geld.
Während unserer Recherche sind wir immer wieder auf Patienten und Krankenkassen gestoßen, die angeblich über ihre Erfahrungen nicht mit uns sprechen dürften, weil sie eine Entschädigung vom Hersteller nur im Gegenzug für eine Verschwiegenheitserklärung bekommen hätten. Geld gegen Schweigen: Erleben Sie das auch?
Das erlebe ich auch andauernd. Die Verschwiegenheitsklausel ist Gegenstand der meisten Vergleiche.
Was steht in der Klausel?
In dem Vergleich steht dann drin: Du, Geschädigter, kriegst die Summe X. Damit sind alle Ansprüche abgegolten. Dafür verpflichtest du dich jetzt, über diesen Fall und über den Vergleich zu schweigen. Das ist die Regel.
Damit verhindern Hersteller, dass Probleme mit ihren Produkten an die Öffentlichkeit gelangen.
Ganz genau so ist es.
Lohnt sich eine Klage überhaupt? Mit welcher Summe kann ich rechnen, wenn mein Gerät kaputt war und ich noch mal operiert werden musste?
Wir leben in Deutschland und nicht in den USA, hier sind die Summen nicht hoch. Es gibt ein Urteil des Oberlandesgerichts Hamm, mit dem ich immer argumentiere. Dafür, dass ein Patient eine Austauschoperation machen muss, sich also unter das Messer begibt unter Vollnarkose, alleine für diesen Umstand bekommt er laut dem Urteil 8000 Euro. Hinzu kommen dann möglicherweise noch ein paar Tausend Euro, wenn der Patient gesundheitliche Folgen erleiden musste oder es Komplikationen gab.
Ist diese Summe nicht ein bisschen läppisch, gemessen an den Ängsten und gesundheitlichen Strapazen, die der Patient durchmachen musste?
Sie sind nicht gerechtfertigt, aber wir kommen dagegen nicht an. Wir könnten auch 50 000 Euro fordern. Aber wir würden das einfach nicht bekommen. Da setzen die Richter den Rotstift an.
Die Gegenseite hat ja sicher auch teure Anwaltskanzleien, die ihre Interessen vertreten.
Das ist richtig. Das sind meistens Anwälte aus großen internationalen Kanzleien.
Wie erleben Sie die vor Gericht?
Die Anwälte kommen immer schon zu zweit oder zu dritt. Die packen ganz viele Belege aus, über die Einzigartigkeit des Herstellungsverfahrens und die vermeintlichen Kontrollen der Geräte. Die Gerichte werden vollgeknallt mit Schriftsätzen, Hunderte Seiten, dazu mehrere Leitz-Ordner mit umfangreichen Anlagen. Das Meiste davon ist heiße Luft, aber die ganzen technischen Details muss der Richter erst mal durchackern. Die großen Hersteller unternehmen alles, um von dem, was für die Entscheidung wirklich wichtig ist, abzulenken.
Experten argumentieren, dass die lasche Zulassung der Hauptgrund dafür ist, dass überhaupt so viele fehlerhafte Produkte auf den Markt kommen.
Die Zulassung in der EU ist mangelhaft, weil private Unternehmen wie etwa der TÜV entscheiden, welche Produkte sicher sind und verkauft werden dürfen - und nicht der Staat. Die schauen sich viele Dinge nur auf dem Papier an. Das reicht nicht.
Welche Erfahrungen haben Sie mit dem TÜV gemacht?
Ich kann das am Beispiel der Silikonprothesen des französischen Herstellers PIP erklären. Die Firma wollte die Produktionskosten reduzieren, dafür verwendete sie ein billiges Industriesilikon als Füllmaterial. Dann ist die Gewinnspanne höher. Der TÜV hat das jahrelang nicht bemerkt. Das ist aber auch kein Wunder. Er hat sich ja bei den Kontrollen vorher angemeldet und dann vor Ort oft nur Unterlagen durchgeschaut.
Welche Folgen hatte das?
Bei Tausenden Frauen in Frankreich und Deutschland riss das billige Material, sie mussten noch mal operiert werden.
Schützt der Staat in Deutschland die Patienten genug?
Eben nicht! Wir brauchen mindestens einmal im Jahr engmaschige, unangemeldete Kontrollen bei den Herstellern. Und nicht nur durch private Prüfstellen, sondern auch durch die nationale Aufsichtsbehörde. Solange das nicht der Fall ist, wird sich die Situation absolut nicht ändern. Dann kann es jederzeit wieder einen PIP-Skandal geben.