Süddeutsche Zeitung

Implant Files:"Vielleicht bin ich Teil eines Systems geworden"

Der Gynäkologe Bas Veersema war sehr angetan von Essure, diesen angeblich so fortschrittlichen Verhütungsspiralen. Doch dann begann für Tausende Frauen weltweit das Leiden.

Interview von Joop Bouma und Jet Schouten

Keine Operation, kein komplizierter Eingriff, man musste nur die Spiralen in die Eileiter schieben. Binnen drei Monaten wuchsen diese zu - und schon war eine Schwangerschaft quasi ausgeschlossen. Bas Veersema, Leiter der Abteilung "Frau und Baby" am Universitätsklinikum Utrecht, war einer der Vorreiter. Von den 30.000 Essure-Spiralen, die Frauen in den Niederlanden erhalten haben, hat er mindestens 1700 eingesetzt. Doch dann klagten Frauen weltweit über schwerwiegende Nebenwirkungen ihrer Spiralen, berichteten von Schmerzen im Bauch, extremer Müdigkeit, Haarausfall. Im vergangenen Jahr hat Bayer Essure in Europa vom Markt genommen. In den USA stoppt der Konzern den Verkauf mit Ablauf dieses Jahres. Und Veersema hat sich inzwischen auf einen anderen Eingriff spezialisiert - die Entnahme von Essure.

SZ: Sie sind vom Befürworter in Sachen Essure zum Skeptiker geworden. Wie kam es zu Ihrem Sinneswandel?

Bas Veersema: Es geht mir wirklich ans Herz, was da passiert ist. Manchmal habe ich Tränen in den Augen, wenn mir eine Frau nach der Entnahme erzählt, dass ihre Kinder sagen: Jetzt haben wir unsere Mutter wieder zurück. Dann denke ich: Wow, das ist heftig. Wenn das wirklich mit diesem Produkt zusammenhängt, dann ist da wohl was dran. Bei der Entnahme von Essure denke ich heute häufig: Das sieht nicht gesund aus. Die Eileiter sind geschwollen, manchmal sticht eine Spirale raus. Die Spiralen sind alle verkalkt, nach fünf Jahren sehen sie manchmal aus wie verkalkte Nägel.

Sie waren damals bei der Einführung von Essure ganz begeistert von dem Produkt.

Ich bin immer noch begeistert! Und nicht nur ich, Frauen auch. Wenn es eine Methode gäbe, um die Frauen, die mit Essure Probleme bekommen, vorher auszuschließen, dann wäre das immer noch ein tolles Produkt. Wir konzentrieren uns nun auf die paar Tausend Frauen, die sich mit Beschwerden gemeldet haben, aber es laufen weltweit eine Million Frauen mit Essure herum. Die Frauen mit Problemen bestimmen nun faktisch, dass Essure ein wertloses Produkt ist. Aber benachteiligen wir andere Frauen nicht, indem wir das Produkt ganz stoppen? Ich weiß es nicht.

Wie konnte die Sache so schief gehen?

Dinge sind manchmal schwieriger als wir glauben. Und wir haben einfach kein gutes System, um die Krankengeschichte von Patienten wirklich nachzuverfolgen. Nach der Implantation kommen die Frauen nach drei Monaten noch einmal vorbei, und dann war es das. Aber wenn man etwas in den Körper einsetzt, muss man dann nicht strengere Anforderungen stellen, wie man den Patienten weiter folgt? Müssen wir nicht viel intensiver Daten erfassen? Man kann im Voraus niemals an alles denken, was schiefgehen kann.

So erreichen Sie uns

Wenn Sie Fragen zum Thema Implantate oder Medizinprodukte haben, können Sie sich bei Ihrem Arzt melden oder bei der SZ. Sie erreichen uns per E-Mail unter implantfiles@sz.de.

Wie kann man sich als Patient gegen medizinischen Enthusiasmus wappnen?

Das geht nicht. Es geht um Vertrauen. Jeder um einen herum ist ein Enthusiast. Die Broschüren und die Patienteninformationen malen ein beruhigendes und glückliches Bild. Der Arzt glaubt an so eine Technik. Die ist minimalinvasiv, es ist in zehn Minuten passiert. Ich habe zehn Jahre lang zufriedene Frauen in meiner Sprechstunde gehabt, nur eine einzige Beschwerde. 2013, als die erste Frau mit einer ernsthaften allergischen Reaktion zu mir kam, dachte ich, ach, das ist eine sehr seltsame Nebenwirkung. Das hat mich noch nicht beunruhigt.

Die Frauen haben Ihnen als Arzt vertraut.

Nein, sie vertrauten ihrer Nachbarin. Aus den ganzen Niederlanden kamen sie: Doktor, ich will Essure, denn meine Freundin, meine Nachbarin, meine Schwester hat Essure bekommen, und die sind so begeistert. Das will ich auch.

Aber Sie haben doch als Arzt eine eigene Auffassung.

Die Technik ist wirklich sehr schön. Und im Jahr 2003, als wir begonnen haben, galt Essure als sicheres Produkt. Die amerikanische Aufsichtsbehörde FDA hatte es für gut befunden, dann vertraut man darauf. Ich kann das doch als Arzt nicht selbst untersuchen. Später habe ich dann schon begonnen, an der FDA zu zweifeln.

Sie waren kritisch, aber Sie waren auch Berater des Essure-Herstellers Conceptus, der später von Bayer aufgekauft wurde. War die Firma zufrieden mit Ihnen?

Nicht immer. Ich habe Ansichten öffentlich gemacht, die Conceptus nicht zupasskamen. Meine wissenschaftlichen Publikationen behandelten stets die negativen Seiten von Essure: die Schwangerschaften, die Komplikationen, die Perforationen. Meine Leidenschaft ist es, die medizinische Versorgung von Frauen zu verbessern. Ich glaubte damals an das Produkt.

Viele Gynäkologen tun das immer noch. Sie sagen, die Beschwerden seien Unsinn.

Die Sache ist kompliziert. Auch weil sie so emotional aufgeladen ist. Ärzte wollen Beweise. Wir werden ausgebildet, so zu denken. Aber man muss auch seinen gesunden Menschenverstand gebrauchen, finde ich. Wir wollen immer Verbesserungen, aber Verbesserung führt manchmal zu einer Katastrophe, und eine Katastrophe ist dies wohl.

Wurden Sie als Ärzte benutzt?

Wir sind als Ärzte im guten Glauben, man nimmt seine Patientinnen ernst, man nimmt die Firma ernst. Dass der Hersteller vielleicht einen ganzen Marketingplan hat, um zu sehen, wie er den Arzt dazu bringt, das zu tun, was ihm zupass ist ... das beginnt so langsam ... ich habe das immer bestritten, aber nun denke ich: Vielleicht bin ich ein Teil eines Systems geworden, wobei ich selbst nicht durchschaut hatte, wie sie einen steuern.

Wie sind Sie zu dieser Einsicht gekommen?

Ich sehe, dass ich eine Rolle gespielt habe. Aber ich bin davon überzeugt gewesen, dass ich meine Arbeit aus einer inneren Motivation heraus getan habe. Ich hatte eine sehr gute Beziehung zu der Firma. Ich finde, es geht zu weit, dass Ärzte keine Verbindungen mit Firmen haben dürfen, aber ich verstehe schon, warum manche Menschen das so sehen. Um jedem Anschein von Interessenkonflikten entgegenzutreten, muss man das vielleicht doch fordern. Aber wir haben einander wohl nötig, um Forschung machen zu können.

Fühlen Sie sich verantwortlich für das Leid der Frauen?

Im Rückblick denke ich, dass ich eine Verantwortung habe. Ich habe mitgeholfen, Essure groß zu machen. Ich habe anderen Gynäkologen Schulungen gegeben, mitgeholfen bei der Qualitätsverbesserung. Aber ich habe auch kritische Randbemerkungen platziert. Ich habe Bayer aufgefordert, Essure vom Markt zu holen. Ich habe gesagt: Ihr verteidigt immer noch etwas, was nicht mehr verteidigt werden kann.

Welche Konsequenzen ziehen Sie aus dem Essure-Fiasko?

Wenn ich kritisch zurückblicke, denke ich: Wir hätten weltweit ein Register für Essure aufsetzen müssen. Wir hätten alle Patientendaten zusammenbringen müssen. Die heutigen Datenbanken erfassen lediglich spontane Verdachtsmeldungen. Das funktioniert aber nicht! Letztlich haben Frauen mit Essure sich gegenseitig aufgerufen, Meldung bei den Gesundheitsbehörden zu machen. Aber das ist natürlich nicht das optimale System, um etwas zu überwachen und Probleme zu erkennen, die wir noch nicht kennen.

Joop Bouma arbeitet für die niederländische Tageszeitung Trouw, Jet Schouten für den TV-Sender Avrotros. Beide Medienhäuser kooperieren bei der Implant-Files-Recherche mit der Süddeutschen Zeitung. Übersetzung: Christina Berndt

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