Sie ist "die stärkste Beere der Welt", die "Superbeere", sie gilt als "Superfood" - der Hype um die Cranberry kannte kaum Grenzen, als die "Großfrüchtige Moosbeere", so der deutsche Name, sich in den Nullerjahren in Deutschland etablierte. Seither hat die Cranberry ihren festen Platz in Supermärkten, Drogerien und Reformhäusern, zerrieben, gepresst oder getrocknet, in Tablettenform, als Kapseln oder Saft. Wer im Internet nach ihrem Nutzen sucht, staunt darüber, dass die Beere angeblich das Immunsystem stärkt und Magenbeschwerden bekämpft, ebenso wie Arteriosklerose, grippale Infekte und vor allem Blasenentzündungen - laut wissenschaftlichen Studien, behauptet zumindest die Hörzu. Die Blasenentzündung diente als Hauptargument der Hersteller von Cranberry-Produkten: "Cranberrys helfen, das Risiko eines Harnweginfekts zu reduzieren" - so konnte man es zum Beispiel auf ihren Verpackungen lesen.
Die Ernüchterung im Cranberry-Lager kam im Jahr 2011, als die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit die wissenschaftliche Basis solcher Aussagen bemängelte. Bis dahin hatte es ausgereicht, dass Hersteller ihre Einschätzung etwa mit allgemeinen Erfahrungswerten begründeten. Oder gar nur mit historisch überliefertem Wissen über die Superbeeren, Tests an Kaninchen und Mäusen sowie mit Ergebnissen aus dem Pharmabereich, die über die Wirkung der Lebensmittel beim Menschen aber nichts aussagen. Also verbot die EU, das Lebensmittel weiterhin mit den ungeprüften und unbegründeten Behauptungen einer sagenhaften Heilkraft - den sogenannten Health Claims - zu verkaufen.
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"Im Lebensmittelbereich war der der Sack für die Cranberry-Produkte damit zu", erklärt Rechtsanwältin Fabienne Diekmann, die Unternehmen aus der Lebensmittel-, Pharma- und Medizinprodukte-Industrie berät. Um den Cranberry-Lifestyle weiterhin mit diesen oder ähnlichen Argumenten zu vertreiben, hätte es nämlich wissenschaftlicher Studien bedurft. Und das Problem an wissenschaftlichen Studien ist: Sie kosten viel Zeit und Geld, und man weiß vorher nicht, was hinterher dabei herauskommt. "Aber es wird immer jemanden geben, der der Lebensmittelindustrie erklärt, durch welches Schlupfloch es einfacher geht", sagt Diekmann.
In diesem Fall war das Schlupfloch: die Zulassung als Medizinprodukt.
Im Gegensatz zu Arzneimitteln dürfen Stoffe, die als Medizinprodukte zugelassen werden, keine pharmakologische Wirkung haben - sondern lediglich eine medizinische und therapeutische "Zweckbestimmung". Sie sollen das Immunsystem unterstützen oder zumindest dazu beitragen, greifen aber, im Gegensatz zu Arzneimitteln, nicht in den Stoffwechsel ein. Ob Verbraucher diesen Unterschied verstehen, ist höchst fraglich. Rein optisch scheint die gewünschte Wirkung vor allem darin zu bestehen, dass die Cranberry-Medizinprodukte in Aufmachung und Verpackung echten Medikamenten so nahe wie möglich kommen.
Bei Medizinprodukten gibt es außerdem, im Gegensatz zu den Arzneimitteln, keine unabhängige Kontrollinstanz. Das für die Zulassung erforderliche Zertifikat wird von privaten Unternehmen ausgestellt, die für diese Leistung von den Unternehmen bezahlt werden. 2012 ließ ein niederländischer Hersteller - nach seinen Angaben als Erster - ein Cranberry-Mittel als Medizinprodukt zur Behandlung von Blasenentzündungen zertifizieren, von einer deutschen Prüffirma in Aachen. Die Cranberry-Kapseln wurden in Produktklasse II a eingestuft, "mittleres Risiko". Dieselbe Produktklasse wie etwa Zahnfüllungen, Hör- und Ultraschallgeräte.
Der Erfolg der niederländischen Firma inspirierte bald andere Produzenten, vor allem jene, die ihren Health Claim ein Jahr zuvor verloren hatten - und immer mehr Cranberry-Erzeugnisse verwandelten sich vom Lebensmittel zum Medizinprodukt. Die Verbraucher haben diesen Wechsel vermutlich überhaupt nicht wahrgenommen. Die Wirkung dieser Beinahe-Medikamente finde oft ohnehin mehr im Kopf als im Rest des Körpers statt, meint PR-Berater Marc Däumler, seit 16 Jahren im Bereich Medizinprodukte tätig. Er glaubt, dass die Menschen nicht zu Cranberrys greifen, damit es ihnen wieder besser geht - sondern damit es ihnen noch besser geht: "Hab ich ein Rezept vom Arzt, dann bin ich krank. Aber ich bin nicht krank, ich unterstütze meinen Körper, durch Vitamine, Lutschbonbons, Nasensprays."
Aber auch das bequeme Dasein als Medizinprodukt hielt nicht lange an. Die Europäische Arzneimittel-Agentur, die in der EU für die Beurteilung und Überwachung von Arzneimitteln zuständig ist, kam 2016 zu dem Schluss: Wenn der in der Beere enthaltene Stoff Proanthocyanidin (PAC) wirkt, dann nur pharmakologisch. Somit entschied die EU ein Jahr später, dass Cranberrysaft & Co. keine Zukunft als Medizinprodukt haben, sondern höchstens als Arzneimittel. "Das Problem ist, dass die Zulassung als Arzneimittel wahnsinnig aufwendig und langwierig ist", erklärt Anwältin Diekmann, "sie brauchen dreiphasige Studien. Das ist eine andere Dimension."
Das Cranberry-Dilemma lautete also: die Lebensmittelaufsicht zu streng, als Medizinprodukt nicht mehr geeignet, als Arzneimittel zu wenig erforscht. Die Superbeere hatte ein Vermarktungsproblem. Noch gibt es zwar Restbestände der Cranberry-Medizinprodukte im Internet und in Drogerien, aber die Hersteller sind schon weitergezogen zu einem neuen Etikett - das etwas weniger Medizin-Glanz versprüht, dafür aber einen unkomplizierten Marktzugang verspricht. Sie werden Cranberrys als Nahrungsergänzungsmittel verkaufen. Auf der Verpackung darf dann zwar kein Gesundheitsbezug mehr zur Blase hergestellt werden, aber den haben die Verbraucher ohnehin längst verinnerlicht. Einmal Superbeere, immer Superbeere.