Süddeutsche Zeitung

Kampf um Idlib:Eine Waffenruhe, aber keine Lösung

Putins und Erdoğans Plan für Idlib enthält zahlreiche Ungewissheiten. Der türkische Machthaber machte einige Zugeständnisse - vor allem zu Lasten der flüchtenden Bevölkerung.

Von Moritz Baumstieger

Bevor die Verhandlungen begannen, versuchte der russische Staatspräsident Wladimir Putin seinen Gast schon einmal milde zu stimmen: Dass Ende vergangener Woche 36 türkische Soldaten bei einem Luftschlag in der nordsyrischen Rebellenprovinz Idlib gefallen seien, sei äußerst bedauernswert. Solche Zwischenfälle sollten künftig um jeden Preis vermieden werden - auch deshalb hatte er seinen Gast Recep Tayyip Erdoğan nach Moskau eingeladen, um einen Weg aus der sich zuletzt immer weiter drehenden Eskalationsspirale in Syrien zu finden.

Dass eine russische Verwicklung in jenen Zwischenfall vom vergangenen Donnerstag, zurückhaltend formuliert, nicht ausgeschlossen werden kann, das wusste der türkische Staatspräsident natürlich genau. Die Verhandlungen über die Situation in Idlib waren daher nicht einfach, was sich schon an ihrer Länge zeigte: Erst nach fast sechs Stunden, in denen die beiden Präsidenten redeten, präsentierten sie ein Ergebnis. Das sieht eine Waffenruhe vor, die bereits in der Nacht zum Freitag beginnen sollte - immerhin. Dass das Abkommen in der von Kämpfen geplagten Provinz ihren Bewohnern und den mehr als 900 000 Binnenflüchtlingen jedoch Frieden bringen wird, darf bezweifelt werden.

Im Dezember hatte die syrische Armee mit Luftunterstützung der russischen Luftwaffe eine Offensive auf diese letzte Provinz gestartet, die noch in den Händen von Aufständischen ist. Lange hatte das Regime von Machthaber Baschar al-Assad hierher Kämpfer aus anderen Regionen abziehen lassen, die seine Truppen zurückerobert hatten; viele der umgesiedelten Militanten gehörten islamistischen bis dschihadistischen Milizen an. Zwar hatte Assad seit Beginn des Bürgerkrieges vor mittlerweile neun Jahren stets wiederholt, "jeden Zentimeter" syrischen Bodens wiedererobern zu wollen - dass er es auf eine schwierige Entscheidungsschlacht um Idlib ankommen lässt, bezweifelten jedoch bis zuletzt viele. Schließlich waren hier nicht nur die erfahrensten Kämpfer der Aufständischen verschanzt, sondern auch Soldaten des Nachbarlandes Türkei stationiert - Mitglieder einer gut ausgerüsteten Nato-Armee, die als Schutzmacht der gemäßigteren Rebellen auftrat.

Auf Gipfeln in Astana und später in Sotschi hatte die Türkei mit Syriens Schutzmächten Iran und Russland Idlib zur "Deeskalationszone" erklärt, Militärposten sollten die Waffenruhe auf beiden Seiten einer Demarkationslinie überwachen. Einige dieser türkischen Observationspunkte sind von syrischen Truppen umstellt - denn Russland und Syrien rückten bald wieder vor. Sie warfen der Türkei vor, einen weiteren Punkt im Abkommen nicht einzuhalten: Ankara hatte sich verpflichtet, dschihadistische Gruppen zu entwaffnen. Dieses Ziel umsetzen zu können, war unrealistisch, die Türkei unternahm aber auch keine nennenswerten Versuche dazu.

Der Deal geht auf Kosten der Aufständischen

Das Abkommen vom Donnerstag verlangt keine solche kaum zu verwirklichenden Dinge. Es ist deutlich einfacher umzusetzen: Nördlich und südlich der strategisch wichtigen Autobahn M4 soll jeweils ein sechs Kilometer breiter Sicherheitskorridor eingerichtet werden. Von 15. März an werden, so der Plan, russische und türkische Truppen auf der Autobahn patrouillieren, um die Waffenruhe zu überwachen.

Falls der Frieden bis dahin hält - denn dass die Türkei genug Einfluss auf alle syrischen Rebellenfraktionen hat, damit diese die Kämpfe komplett einstellen, kann bezweifelt werden. Zum einen wissen die Aufständischen, dass Assad und Putin Waffenruhen meist zur Vorbereitung der nächsten Offensive nutzen. Und zum anderen geht der Deal von Moskau eindeutig auf ihre Kosten: Obwohl der türkischen Armee seit dem Wochenende der Abschuss von einigen syrischen Jets gelang und ihre Drohnen Assads Armee erheblichen Schaden an Material und Menschen zufügten, musste Ankara die russische Überlegenheit in Syrien anerkennen - von den Rebellen zwischenzeitlich zurückeroberte Städte sind längst wieder mit russischer Militärpolizei besetzt.

Von Erdoğans ursprünglich erhobener Forderung, die Truppen von Machthaber Assad müssten sich hinter die Linien des gebrochenen Waffenstillstandsabkommens von Sotschi zurückziehen, ist nicht viel übrig geblieben: Das gesamte Gebiet südöstlich der Autobahn bleibt unter Kontrolle von Damaskus - und damit auch der größte Teil jener Gebiete, aus denen Hunderttausende Menschen geflohen sind, die nun versuchen, in den völlig überfüllten Lagern an der türkischen Grenze einen Platz zu finden.

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SZ vom 06.03.2020/bix
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