Süddeutsche Zeitung

Ideengeschichte:Ein schillerndes Geschöpf

Alexander Gallus analysiert die Revolution von 1918/1918 und betritt dabei wenig begangene Pfade.

Von Robert Probst

Vor etwas mehr als zehn Jahren hat der Historiker Alexander Gallus ein Buch herausgegeben mit dem schlagenden Titel "Die vergessene Revolution von 1918/1919". Damals stimmte das, nach dem 100-jährigen Jubiläum von 2018, als die Buchläden und Zeitungsseiten voll waren mit Revolutions(neu)deutungen, ist es ganz anders. Das hat auch Gallus, Lehrstuhlinhaber für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Chemnitz, erfreut festgestellt - und nun einen Aufsatzband über "Revolutionäre Aufbrüche und intellektuelle Sehnsüchte" zwischen Weimarer Republik und Bundesrepublik vorgelegt. Der führt die neu entfachte Debatte gekonnt fort und erweitert sie um einige interessante Schlaglichter - in Richtung einer Intellectual History, einer Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts.

"Was uns fehlt, ist eine Revolution. Die Gegenrevolution haben wir", schrieb Kurt Tucholsky im Mai 1919 in der Weltbühne. Was Gallus interessiert, sind vor allem die Reaktionen der linken und rechten Intellektuellen in der Weimarer Zeit, die sich in der radikalen Ablehnung der Ebert-Revolution sehr einig waren, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen. Er will herausfinden, wie Zeitgenossen, die heute oft vergessen sind, auf den Umbruch reagierten, ihn wahrnehmen und würdigten. Und warum viele so sehnsüchtig auf eine "echte" Revolution hofften, sei es nun eine sozialistische oder konservative. Und er zeichnet am Beispiel einiger Weltbühnen-Autoren, etwa Kurt Hiller, Axel Eggebrecht oder William S. Schlamm nach, wie diese nach der NS-Herrschaft in der jungen Republik ankamen oder eben nicht so gut ankamen.

Eine Meistererzählung lassen die Ereignisse nicht zu

Und wer auf der Suche ist nach einer Conclusio der 2018 doch sehr lebhaft geführten Debatte über den historischen Ort der Revolution von 1918, kann sich an einer sehr klaren Argumentation erfreuen, wonach sich aus den Ereignissen "weder ein Lernbeispiel für die deutsche Demokratiegeschichte noch eines des gewaltgeschichtlichen Abgrunds in die Diktatur" generieren lassen. Gallus beharrt auf der Janusköpfigkeit der Novemberrevolution als "schillerndes Geschöpf" und lehnt es ab, daraus eine "die Geschichte glattziehende Meistererzählung" zu formen. Sein Appell: "Die Revolution nicht quasi-pathologisch zu untersuchen, sondern als offene historische Situation voller Lebendigkeit und Risiken gleichermaßen, die von den Zeitgenossen verlangte, Widersprüche und Widrigkeiten auszuhalten, könnte uns helfen in Zeiten, die selbst vom Gefühl neuer Krisenhaftigkeit gekennzeichnet sind."

Die Suche nach Kontinuitäten und Metamorphosen über die großen Bruchlinien 1918, 1933 und 1945 hinweg bietet eine spannende Lektüre abseits ausgetretener Revolutionspfade.

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Quelle:
SZ vom 20.09.2021
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