Amoktäter:"Die Dimension dieser Fälle sollte man nicht unterschätzen"

Amoktäter: Zwischen Regensburg und Nürnberg stach in diesem ICE am Samstag ein 27-Jähriger offenbar wahllos auf Passagiere ein.

Zwischen Regensburg und Nürnberg stach in diesem ICE am Samstag ein 27-Jähriger offenbar wahllos auf Passagiere ein.

(Foto: Vifogra/AP)

Lassen sich Angriffe wie am Samstag in einem ICE in Bayern verhindern? Falk Schnabel, Polizeipräsident von Münster, über Menschen, die zur Gefahr für sich und andere werden, und die Frage, was die Polizei überhaupt tun kann.

Interview von Ronen Steinke, Berlin

Im ICE von Passau nach Hamburg griff am Samstagvormittag ein 27-Jähriger Mitreisende mit einem Messer an, drei Männer verletzte er schwer. Was den Mann zu der Tat veranlasste, war am Sonntag noch unklar. Erste Einschätzungen weisen laut Polizei auf psychische Probleme hin. Lassen sich solche Vorfälle verhindern? Ein Gespräch mit Falk Schnabel, 52, dem Polizeipräsidenten von Münster, wo 2018 ein psychisch kranker Amokfahrer vier Menschen tötete. Seitdem bemüht sich die Stadt und das Land NRW um stärkere Prävention.

SZ: Herr Schnabel, bei spektakulären Gewalttaten ist in letzter Zeit häufiger die Erklärung zu hören, das sei psychisch bedingt. So auch jetzt im Fall der ICE-Messerattacke. Wie oft erleben Sie psychische Auffälligkeiten, bei denen Gefahr für andere Menschen besteht?

Falk Schnabel: Im Polizeialltag werden wir immer wieder zu Einsätzen gerufen, weil offensichtlich verwirrte Menschen randalieren, andere bedrohen, beleidigen oder auch mal handgreiflich werden. Manchmal fallen sie auch durch verworrene Eingaben an die Behörden auf. Die Dimension dieser Fälle sollte man nicht unterschätzen: In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel werden jährlich um die 18 000 Menschen in einer Klinik untergebracht, weil sie eine Gefahr für sich oder andere darstellen. Etwa 40 Prozent von ihnen werden nach 48 Stunden wieder entlassen.

Weil sie sich als harmlos erweisen?

Das kann ich nicht beurteilen. Ich erinnere mich an einen wohl 15 Jahre zurückliegenden Fall, in dem ein Mann eine Mitarbeiterin beim - ich meine - Sozialamt geschlagen hatte, weil ihm - wie er später sagte - dies Affen befohlen hätten. Das Verfahren wurde wegen Geringfügigkeit eingestellt, der Mann zog zur Mutter in ein anderes Bundesland. Einige Zeit später befahlen ihm Affen offenbar, die Nachbarn der Mutter anzugreifen, was er dann auch tat - mit einem Beil. Hier wäre ein Informationsaustausch essenziell gewesen.

Amoktäter: Falk Schnabel, 52, Polizeipräsident von Münster.

Falk Schnabel, 52, Polizeipräsident von Münster.

(Foto: privat/privat)

Wirre Briefe, wirres Gerede, das gibt es oft. Soll die Polizei künftig in jedem dieser Fälle einschreiten?

Bei bestimmten Wahnvorstellungen finde ich schon, dass wir aufmerksam werden müssen. Und zwar ohne die Menschen, die dringend Hilfe benötigen, zu stigmatisieren. Aber wir müssen uns kümmern. Wir bekommen hier bei der Polizei Briefe von Menschen, die schreiben, ihre Nachbarn würden sie nachts mit schädlichen Strahlen terrorisieren und womöglich zu töten versuchen. Wenn das nicht bald von den Behörden unterbunden würde, müsse man sich wehren. Das sind Situationen, in denen aus einer eingebildeten Gefahr leicht eine reale Gefahr werden kann.

Was können Sie als Polizei da tun?

Alle diese Menschen, die ich beschrieben habe, litten an einer psychischen Störung. Oftmals mit als real empfundenen Stimmen im Kopf, die ihnen Dinge befehlen, beziehungsweise einreden, andere wollten ihnen Böses. Das lässt sich mit Neuroleptika heutzutage zwar gut in den Griff kriegen, allerdings müssen die Medikamente dauerhaft eingenommen werden. Das Problem dabei ist, so sagen Therapeuten: Mangels Krankheitseinsicht - die Stimmen sind ja für sie real - ist es oftmals schwer, die Kranken zur Einnahme zu bewegen.

Gelingt es, dann sind die Stimmen bald weg.

So habe ich mir das schildern lassen. Aber dann werden die Medikamente von den Kranken, die ja in der Regel nicht stationär untergebracht sind, mitunter selbständig wieder abgesetzt. Die Stimmen sind ja weg, man fühlt sich wieder normal. Die Medikamente haben teilweise auch Nebenwirkungen wie Müdigkeit, Gewichtszunahme, das ist unangenehm. Und dann kann es passieren, dass die Stimmen wieder kommen.

Ist das nicht etwas, das Ärzte am besten beurteilen können? Nicht Sie, die Polizei?

Natürlich kann und darf die Polizei kein Ersatz für eine medizinische Versorgung sein. Das ist auch nicht unser Anspruch. Wichtig ist die Zusammenarbeit. Das aber setzt voraus, dass wir Informationen über eine Erkrankung aus dem Gesundheitsbereich bekommen. Noch zu oft werden wir erst durch eine akute Gefährdung oder gar einen körperlichen Angriff auf eine Erkrankung aufmerksam. Da reagiert unser Rechtsstaat dann sehr stark: Bei schweren Straftaten kann es zu einer Unterbringung im Maßregelvollzug kommen. Das dauert durchschnittlich fünf bis acht Jahre.

Aber dann ist es ja schon zu spät.

Ja, das wollen wir verhindern. Mein Fazit ist: Zwischen einer ganz kurzen Zeit in der Psychiatrie und fünf bis acht Jahren Unterbringung in der Forensik müssen wir eine gut funktionierende ambulante Hilfestruktur haben. Mit dem Modellprojekt "Periskop" arbeiten wir in Nordrhein-Westfalen daran, im Rahmen des rechtlich Zulässigen, Daten zwischen der Seite der Medizin und der Seite der Polizei auszutauschen. Wir setzen darauf, so neue Wege zu finden, eine Eskalation zu verhindern. Nicht zuletzt auch zum Wohle des Patienten.

Was bräuchte es aus Ihrer Sicht?

Aus polizeilicher Sicht ist es notwendig, möglichst frühzeitig über solche Fälle Bescheid zu wissen. Wenn kranke Menschen einen Einsatz auslösen, bleibt der Polizei oft nur unmittelbarer Zwang. Das kann niemand wollen. Wir auch nicht! Deshalb ist es für uns wichtig zu wissen, wie wir auf diese Menschen zugehen können, ohne dass es eskaliert. Dazu müssen wir aber wissen, was der Betreffende hat und wie wir mit ihm sachgerecht umgehen können.

Viele Ärzte fürchten: Wenn die Polizei informiert wird, zerstört dies das Vertrauen des Patienten.

Ich kann diesen Einwand verstehen. Dabei wären gerade diese Informationen durchaus auch im Sinne einer guten Behandlung. Ob der Kranke nach der Entlassung aus der psychiatrischen Klinik seine Neuroleptika weiter einnimmt, kontrolliert ja im Regelfall niemand. Das kriegen dann am ehesten die Polizisten mit, wenn der Nachbar erneut anruft, weil der Kranke wieder randaliert.

Bedeutet das nicht: mehr Repression gegen Kranke?

Ich finde nicht. Es geht in erster Linie um Hilfe und darum, Schlimmeres zu verhindern. Aus einem Landkreis erinnere ich mich an einen ebenfalls viele Jahre zurückliegenden Fall, in dem ein Mann - es sind meistens Männer - mit einer Armbrust um sein Haus patrouillierte, ansonsten aber zugänglich war. Als ihn ein uniformierter Polizist mit Diensthund einmal bei so einer Patrouille ansprach, schoss der Mann unvermittelt auf den Beamten, verfehlte ihn zum Glück, der Mann hingegen wurde durch den eingreifenden Diensthund erheblich verletzt. All das hätte man sich vielleicht sparen können, wenn bekannt gewesen wäre, dass der Mann glaubte, die Polizei wolle ihn töten. Solche Erkenntnisse helfen uns bei der Lagebeurteilung und ermöglichen professionelles Vorgehen. In einem solchen Fall zum Beispiel in Zivil.

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