Süddeutsche Zeitung

ICC:Russland tritt Rückzug aus Den Haag an

Moskau verlässt das Weltstrafgericht - ein weiterer Schlag für die Institution, die schon mit einer Austrittswelle afrikanischer Staaten zu kämpfen hat.

Von Frank Nienhuysen und Isabel Pfaff

Der Hohn ist schwer zu überlesen, den das russische Außenministerium in seine Erklärung gepackt hat. In 14 Jahren habe der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag ganze vier Urteile gesprochen und dabei mehr als eine Milliarde Dollar ausgegeben. Und einseitig sei er auch noch. Jetzt hat Russland Konsequenzen gezogen aus seinem Verdruss über das Haager Strafgericht, von dem es selber einigen Ärger zu erwarten hat: Mit sofortiger Wirkung zog Russland sich am Mittwoch auf Anordnung von Präsident Wladimir Putin vom Internationalen Strafgerichtshof (ICC) zurück, das Land will ausdrücklich kein Mitglied sein. Moskau hatte den Vertrag im September 2000 unterzeichnet, allerdings nie ratifiziert. "Leider hat der Gerichtshof die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllt und ist kein echtes, unabhängiges, geachtetes Organ des internationalen Rechts geworden", erklärte das russische Außenministerium.

Moskau bezog sich in seiner Begründung auf den mehrtägigen Georgien-Krieg im August 2008. Sowohl Russland als auch Georgien hatten vor dem Haager Gericht Beweismaterial zu den Ereignissen eingereicht. Ende Januar dieses Jahres schließlich erklärte das internationale Tribunal, dass wegen Verbrechen im Südossetien-Konflikt offiziell ermittelt werde. Georgien zeigte sich zufrieden, Moskau aber war derart enttäuscht, dass eine Sprecherin des Außenministeriums damals schon ankündigte, dass Russland sein Verhältnis zum Internationalen Strafgericht überdenken werde. In seiner Erklärung vom Mittwoch nun wirft das russische Außenministerium dem Gericht vor, sich auf mutmaßliche Verbrechen von russischen Truppen zu konzentrieren. Die georgische "Aggression" gegenüber Zivilisten in Südossetien werde ignoriert.

Zumindest der Zeitpunkt von Moskaus Rückzug dürfte allerdings weniger mit Georgien zu tun haben als vielmehr mit dem Ukraine-Konflikt, zu dem das Gericht seit 2014 Vorermittlungen führt. Den Haag spricht in seinem jüngsten, am Montag veröffentlichten Bericht von einem "internationalen bewaffneten Konflikt zwischen der Ukraine und Russland" sowie einer "Besatzung" - eine Sichtweise, die Moskau kategorisch zurückweist.

Am bisherigen Verhältnis Russlands zum Internationalen Strafgerichtshof wird die Aufkündigung der Unterschrift wenig ändern. Und doch ist es ein Schlag für den ICC, der um seine Anerkennung ringt. Gegründet als überstaatliche Instanz, die weltweit Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgen soll, war der ICC von Beginn an umstritten. Großmächte wie die USA, China, Indien und Russland lehnten die Idee eines Weltstrafgerichts ab, das gegen ihre Staatsbürger oder gegen Regierungsvertreter ermitteln könnte. Andere - darunter Lateinamerika, fast ganz Europa und die meisten afrikanischen Staaten - wurden Mitglied des ICC.

Seit einigen Jahren gerät das Tribunal aber auch von Seiten seiner Mitglieder unter Druck. Zahlreiche Regierungen aus Afrika werfen den Ermittlern vor, sich einseitig auf den Kontinent zu konzentrieren und andere Weltregionen außer Acht zu lassen. Tatsächlich wurden vor dem ICC bisher nur Afrikaner angeklagt, darunter amtierende Staatschefs. Den Autokraten unter Afrikas Präsidenten missfällt das, sie befürchten, bald selbst ins Visier der Ermittler zu geraten - und machen daher Stimmung gegen das Gericht. Und obwohl es diesen Staatschefs eher um ihr eigenes Schicksal als um Gerechtigkeit gehen dürfte: Die Schieflage auf der Haager Anklagebank ist nicht von der Hand zu weisen und schafft Probleme für die Legitimität des ICC. Drei afrikanische Staaten haben im Oktober ihren Austritt eingeleitet - ein Novum in der Geschichte des Gerichts.

Dabei gibt es klare Anzeichen dafür, dass die Haager Ankläger die Afrika-Schieflage korrigieren wollen: Nicht nur gegen Russland gibt es Ermittlungen, seit 2014 untersuchen die Ankläger auch die Rolle Großbritanniens im Irak. Am Montag kündigte Chefanklägerin Fatou Bensouda zudem an, dass man kurz davor stehe, Ermittlungen gegen die US-Armee und die CIA wegen möglicher Vergehen in Afghanistan einzuleiten. Möglich sind Ermittlungen gegen Nicht-Mitglieder wie Russland und Amerika dann, wenn die mutmaßlichen Verbrechen auf dem Gebiet eines Mitgliedstaates begangen wurden - dies ist bei Georgien und Afghanistan der Fall. Den Haag versucht zunehmend, dem Anspruch eines echten Weltstrafgerichts gerecht zu werden. Vielleicht kann der ICC so weitere Austritte verhindern. Neue Freunde unter den Großmächten, das zeigt die Reaktion aus Moskau, macht er sich damit nicht.

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Quelle:
SZ vom 17.11.2016
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