Geschichte Europas:Wie politische Fehlentscheidungen Krisen auslösten

BUSH AND CHIRAC SMILE DURING FAMILY PHOTO

Kershaw sieht einen Hauptfehler des Westens in der Invasion im Irak 2003. Damals unterstützte der britische Premier Tony Blair (li.) die auf Lügen aufgebaute Argumentation der US-Regierung unter Präsident George W. Bush (Mitte). Dieses Foto entstand bereits 2001 und zeigt Bush und Blair mit Frankreichs damaligem Staatschef Jacques Chirac beim G-8-Gipfel in Genua.

(Foto: REUTERS)
  • Im zweiten Band seiner Geschichte Europas nimmt der britische Historiker Ian Kershaw die Zeit von 1950 bis heute in den Blick. Er beschreibt sie als Geschichte voller Widersprüche und Ungereimtheiten.
  • Die Gründung der Europäischen Union sieht er als entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte des Kontinents.
  • Für sein positives Deutschland-Bild wurde Kershaw von nationalistischen britischen Blättern als "führendes Mitglied der Anglo-Deutschen Linken" gescholten.
  • Nach 1990 betont Kershaw vor allem die neuen Krisen nach dem Ost-West-Konflikt - und stellt dabei heraus, dass diese nicht unvermeidlich waren, sondern eine Folge von Fehlentscheidungen, insbesondere des Westens.

Rezension von Ulrich Herbert

Im ersten Band seiner Geschichte Europas, der von 1900 bis 1950 reichte, ging Ian Kershaw einer einfachen und plausiblen Frage nach: Wie war es möglich, dass sich Europa in den 1940er Jahren beinahe selbst zerstörte? Sein Ausgangspunkt war die sich herausbildende Konfrontation von Demokratie und Diktaturen als Signum der Epoche. Um diese Konstellation herum und mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Deutschland erzählte er die Geschichte mit einer eindeutigen Richtung: abwärts - ein "Höllensturz".

Für die Zeit nach 1950 ergibt sich eine solche klare Perspektive nicht, und Kershaw beklagt zu Beginn seines zweiten Bands, der an diesem Montag auf Deutsch erscheint, auch, dass ihn dieses Buch "in Bezug auf Interpretation und Darstellung vor noch größere Probleme" gestellt habe als das vorherige.

Nun liegt das auch daran, dass Sir Ian den Ehrgeiz besitzt, die Geschichte tatsächlich bis zur unmittelbaren Gegenwart zu verfolgen - die Probleme des Jahres 2017 beschreibt er bereits in der Vergangenheitsform. Hätte er das Buch mit dem Jahr 1990 oder 1992 beendet, so hätten, wie bei vielen Autoren, die globale Konkurrenz des Kalten Krieges und der Sieg des Westens den gewissermaßen natürlichen Fluchtpunkt der Darstellung gebildet.

Aber selbst wenn er die Darstellung auf die Jahrzehnte zwischen 1945 und 1990 beschränkt hätte, liefe die Geschichte Europas bei ihm nicht zielstrebig auf den Sieg des Westens zu, sondern wäre voller Widersprüche und Ungereimtheiten; daher die titelgebende Metapher der Achterbahn.

Mit dem Blick auf die Zeit zwischen 1990 und 2017 aber gibt es eine solche Zielrichtung der historischen Untersuchung schon gar nicht. Hier betont Kershaw vor allem die neuen Krisen nach dem Ost-West-Konflikt, vom jugoslawischen Bürgerkrieg über die Irak-Kriege bis zur Finanzkrise von 2008 und den Migrationskrisen der Gegenwart, und er hält sie für nicht weniger bedrohlich als die vorherigen. So endet sein Buch ausgesprochen skeptisch.

Dabei gestalteten sich die Jahre nach 1950 im neuformierten "Westen" Europas auf eine unerwartete Weise erfolgreich. Das katastrophale Erbe des Zweiten Weltkriegs mit den Verwüstungen des Kontinents wurde mit tatkräftiger Hilfe der Amerikaner jedenfalls materiell relativ rasch überwunden. Das "Wirtschaftswunder" sorgte in den meisten westeuropäischen Staaten für einen lang anhaltenden Aufschwung und bessere, wenngleich bis in die 1960er Jahre hinein oft immer noch recht ärmliche Lebensbedingungen.

Der Aufschwung im Westen ging jedoch einher mit der Spaltung des Kontinents und der im Grunde unerträglichen Angst vor dem Atomkrieg, die Kershaw hier viel deutlicher herausstreicht als andere Autoren. Der Kalte Krieg und die Angst vor dem heißen Krieg hielten die Blöcke zusammen, selbst die Angst der Europäer vor den ja gerade erst besiegten Deutschen begann dahinter bald zu verschwinden.

In Osteuropa hingegen drückte die Herrschaft der stalinistischen Sowjetunion, und auch nach Stalins Sturz wurde die Lage nicht wirklich besser, im Gegenteil: die Aufstände in Berlin 1953, in Polen und in Ungarn 1956, schließlich in der Tschechoslowakei 1968 machten jeden Anflug auf "Liberalisierung" (einer von Kershaws Zentralbegriffen) immer wieder zunichte.

Gründung der EU als zentrale Weichenstellung

Spätestens mit Breschnew begann die Zeit der "öden, langweiligen Diktatur", nach seiner dynamischen und terroristischen Phase kam das System nun als "konservativer, repressiver Autoritarismus zur Ruhe". Kershaw verschweigt die Erfolge in den sozialistischen Ländern nicht, aber er lässt auch keinen Zweifel daran, mit welchem Maß an Unterdrückung und Entbehrungen der Bevölkerung sie erkauft wurden.

Im Westen hingegen sieht Kershaw Gründung und Aufstieg der Europäischen Gemeinschaft als zentrale Weichenstellung. Er geht mit "Brüssel" nicht unkritisch um, und er übersieht nicht, dass den Bemühungen um Integration von Anfang an nationale Motive zugrunde lagen - die Absicherung der politischen Vorherrschaft Frankreichs durch die Verbindung mit dem wirtschaftlich starken, aber politisch gelähmten Westdeutschland, anders herum die politische Aufwertung der Bundesrepublik durch die Bindung an Frankreich.

Aber er erkennt in dem Versuch des Zusammenschlusses der westeuropäischen Länder doch den entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte des Kontinents, der für Frieden, wirtschaftlichen Aufstieg und kulturelle Verzahnung der europäischen Länder sorgt, trotz aller bürokratischer Überdehnungen. So gehören Entstehung und Ausbau der Europäischen Gemeinschaft von den frühen Jahren bis in die Gegenwart zu den Tragpfeilern seiner Darstellung.

Kershaws positives Deutschland-Bild - manchmal zu glatt

Dass Großbritannien 1957 kein Mitglied der EWG wurde, sieht Kershaw dagegen als großen Fehler der britischen Politik, die bei ihm ohnehin ausgesprochen schlecht wegkommt. Der langfristige Niedergang Großbritanniens, so betont er, war "Folge einer politischen Haltung, die weitgehend von der imperialistischen Tradition des Landes, dessen früherer wirtschaftlicher Vormachtstellung und den Beziehungen zu Amerika und dem Commonwealth, die den Verbindungen zum Kontinent vorgezogen wurden, geprägt war." Der wirtschaftliche Abstieg in den 1960er Jahren, die katastrophale Entwicklung der 1970er mit dem Höhepunkt des "winter of discontent" im Jahr 1979 sieht er ebenso als verfehlt an wie die Politik Thatchers.

Viel positiver sieht er die Entwicklung der Bundesrepublik - wirtschaftlich, sozialpolitisch und insbesondere in dem Bemühen, eine stabile Demokratie aufzubauen und sich intensiv und rückhaltlos mit der NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen. Dass ein britischer Autor vom Range Kershaws, einer der ausgewiesensten Kenner der Geschichte des NS-Regimes, die politische Rolle Westdeutschlands in Europa in den vergangenen fast 70 Jahren derart zustimmend kommentiert, ist ein bemerkenswerter Umstand, für den er in den nationalistischen Blättern der Insel sogleich als "führendes Mitglied der Anglo-Deutschen Linken" gescholten wird.

Zauberlehrling Gorbatschow

Und dieses positive Deutschland-Bild wirkt an manchen Stellen auch zu glatt, zu eindeutig; der liberale Konsens und die Selbstanerkennung als weltoffenes Land ist eine Sache der vergangenen 20 Jahre und weder unumstritten noch ungefährdet.

Wie die meisten Historiker, so erkennt auch Kershaw die beiden Ölpreiskrisen von 1973 und 1979 als tiefgreifenden Einschnitt, als Anfang vom Ende der traditionellen Industriegesellschaften mit gravierenden Auswirkungen auf Sozialstruktur und politische Ausrichtung nicht nur der westeuropäischen, sondern auch der osteuropäischen Länder.

Die Staaten im sowjetischen Machtbereich, noch einseitiger als die des Westens auf Schwerindustrie und quantitatives Wachstum ausgerichtet, verloren hier ihre materielle und ideologische Grundlage. Zudem verschuldeten sie sich im Westen, um die sozialen Standards halten und die Unzufriedenheit der eigenen Bevölkerungen begrenzen zu können. Da sie aber die strukturellen Defizite ihrer Staatswirtschaften nicht abbauen konnten, wurden sie durch die wachsenden Schulden bald so stark eingeschnürt, dass sie jeden Handlungsspielraum verloren, was schließlich zu ihrem Zusammenbruch führte.

Aber unausweichlich war der Kollaps nicht, betont Kershaw. So versteht er Gorbatschow zwar auch als idealistischen Macher, aber vor allem als Zauberlehrling, der das Elend der Sowjetwirtschaft nicht beseitigte, sondern verschärfte und die UdSSR ungewollt in den Untergang trieb.

Warum aber gelang in der Sowjetunion nicht, was in China so erfolgreich war: die Umsteuerung eines kommunistischen Landes in eine kapitalistische Marktwirtschaft in der Regie der Partei? Auch an anderen Stellen vermeidet der Autor explizite Antworten auf die Fragen nach Kausalbezügen.

Warum das europäische "Wirtschaftswunder" in den 1950er und 1960er Jahren so stattfand und solche Auswirkungen hatte, wird nicht ganz klar. Dass die Phase der Entspannung Ende der 1970er Jahre so jäh zu Ende ging und durch den "Zweiten Kalten Krieg" abgelöst wurde, wird überzeugend dargestellt, aber nicht erklärt. Weit ausgreifende Analysen sind Kershaws Sache nicht. Die erzählerische Tradition britischer Historiker wird oft gerühmt, hat aber auch ihre Defizite.

Manche Krisen wären vermeidbar gewesen

Dabei gelingt es dem Autor immer wieder, Zusammenhänge zwischen den Entwicklungen in den verschiedenen europäischen Ländern zu verdeutlichen, ohne dass dies lexikalisch abgearbeitet würde. Aber während der Autor die Jahrzehnte bis 1990 auf der Grundlage der Ergebnisse breiter Forschung erzählen kann, stellen sich für die 25 nun folgenden Jahre ganz neue Fragen, und hier zeigt sich Kershaw erneut als Meister seines Faches.

Er sieht die sich bald auftürmenden Krisen weniger als unvermeidliche, strukturell bedingte Fehlentwicklungen, sondern vor allem als Folge von Fehlentscheidungen - insbesondere des Westens. Dazu gehört die abschätzige Behandlung Russlands, das in den 1990er Jahren unter Jelzin im Chaos von imperialer Auflösung, Wirtschaftsreform und Korruption beinahe untergegangen wäre und von den Amerikanern ebenso wie von den Europäern, etwa bei der Ostausdehnung der Nato, gedemütigt wurde. Die Reaktion darauf war die neoimperiale Politik Putins, der den nationalen Wiederaufstieg seines Landes propagierte, auf Distanz zum Westen ging und mit seiner Ukrainepolitik einen neuen gefährlichen Brandherd in Europa schuf.

Zu den neuen Herausforderungen gehörte zweitens der im Zuge der verschärften Globalisierung durchgesetzte digitale Turbokapitalismus, der keine Grenzen mehr zu kennen schien, zu irrsinnigem Reichtum auf der einen und zur Entstehung neuer Unterklassen mit "prekärer" Beschäftigung und schwieriger Lebenssituation auf der anderen Seite führte.

Ian Kershaw
Achterbahn
Europa 1950 bis heute

Ian Kershaw: Achterbahn. Europa 1950 bis heute. Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019, 832 Seiten. 38 Euro. E-Book: 36,99 Euro.

(Foto: Deutsche Verlags-Anstalt)

Welche Vorstellungen hier bei den Verantwortlichen bestanden, verdeutlicht der Autor mit einem Zitat des britischen Schatzkanzlers Gordon Brown, der prahlte, dass mit der Orientierung auf die Finanzindustrie die wirtschaftliche Stabilität des Vereinigten Königreiches nun endgültig gesichert sei - "einen Rückfall in den Zyklus von Boom und Crash werde es nicht mehr geben". Aber eben aus diesem globalisierten Finanzkapitalismus heraus entstand im Jahr 2008 die Subprime-Crisis, erst in den USA, dann auch in Europa: die gefährlichste Wirtschaftskrise seit 1929 mit tiefgreifenden sozialen und politischen Auswirkungen in einem Großteil der Welt, nicht zuletzt in Europa.

Als dritte Fehlentscheidung sieht Kershaw den Irak-Krieg nach dem Anschlag von 9/11, den die Bush-Administration mutwillig und faktenwidrig in direkte Verbindung mit dem Irak gebracht hatte. Dass der britische Premierminister Blair den US-Präsidenten bei diesem Vorhaben rückhaltlos unterstützte ("Ich bin auf jeden Fall auf Ihrer Seite!") und sogar die Lügen von den irakischen Massenvernichtungswaffen mittrug, schildert Kershaw ausführlich und mit deutlicher Missbilligung.

Der islamische Terrorismus, der Europa hinfort erschütterte, war deshalb, so betont er, zu einem Gutteil selbst verschuldet. Der Tod von Hunderttausenden Menschen im Irak, die Folterung und Herabwürdigung von irakischen Gefangenen in Abu Ghraib oder in Guantanamo waren "Geschenke an den internationalen dschihadistischen Terrorismus". Die Destabilisierung des Nahen Ostens im Zuge des Irak-Kriegs war schließlich auch der Ausgangspunkt für den syrischen Bürgerkrieg seit 2011, der wiederum eine bis dahin in ihren Ausmaßen unbekannte Fluchtbewegung von fast der Hälfte der Bewohner Syriens auslöste.

Dass diese krisenhaften Zuspitzungen der vergangenen 20 Jahre zu einem Rückgang des Vertrauens der europäischen Bevölkerung in die Politik ihrer Regierungen und der angestammten Parteien führten, wundert den Autor daher nicht. Den Aufstieg populistischer Gruppierungen auf der Rechten (und in, wenn auch geringerem Maß, auf der Linken) versteht er ebenso wie den Vertrauensverlust der traditionellen Parteien zwar auch als Ausdruck der veränderten Sozialstrukturen, vor allem der massiven Verminderung der Industriearbeiterschaft. Aber ausschlaggebend waren hier die Erfahrungen der neuen Krisen.

Dabei kam, so Kershaw, der massenhaften Einwanderung von Flüchtlingen nach Europa, vor allem nach Deutschland (sowie in Großbritannien der "Immigration" von Menschen aus den östlichen EU-Ländern) eine entscheidende Rolle zu. Auf die Einwanderer wurden die entstandenen Ängste gelenkt und die Ressentiments geschürt. Bei der Abstimmung über den Brexit spielte die Einwanderung aus den EU-Ländern eine entscheidende Rolle. Der Brexit, so urteilt Kershaw, ist "der größte Akt nationaler Selbstbeschädigung in der Nachkriegsgeschichte".

Pessimistischer Blick in die Zukunft

Sein Fazit am Ende dieses facettenreichen und nachdenklichen Buches ist denn auch gespalten. Auf der einen Seite preist Kershaw Europa als "Kontinent von Demokratien und Zivilgesellschaften": Europa habe, "trotz aller Schwierigkeiten, Spannungen und Frustrationen gelernt, Probleme durch Kooperation und Verhandlungen zu lösen, anstatt zu militärischen Lösungen zu greifen. Europa hat für die Freiheit gekämpft und sie gewonnen. Es hat einen Wohlstand erlangt, um den ihn der größte Teil der Welt beneidet" - wenngleich das Streben nach Einigkeit und einem klaren Identitätsgefühl nach wie vor unerfüllt geblieben sei.

Trotz dieser unvergleichlichen Erfolge - die Probleme und Krisen der Gegenwart lassen eine zuversichtliche Prognose für die Zukunft des Kontinents in den Augen Kershaws nicht zu. Der Aufstieg von Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit, die Angriffe auf das erreichte Maß an Zusammenarbeit und Integration in Europa, die durch nationalistische Regierungen und in Sonderheit die Trump-Administration beförderte Zunahme der Spannungen in den internationalen Beziehungen, die zunehmende Ignoranz gegenüber den Folgen des Klimawandels, die wachsende soziale Ungleichheit, die Gefährdung durch den nach wie vor nicht gebändigten Kasinokapitalismus - all dies führt den Autor am Ende dieses Buches zu einem ausgesprochen besorgten und pessimistischen Blick in die Zukunft.

Nach einem so kenntnisreichen Gang durch die neuere europäische Geschichte wiegt eine solche Prognose schwer. Nun sind die Historiker aber bekanntlich, wenn es um die Zukunft geht, nicht treffsicherer als alle anderen Zeitgenossen. Insofern bestünde noch Hoffnung. Um aber die Geschichte Europas vom Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart historisch einzuordnen und zu verstehen, gibt es derzeit kaum etwas Sinnvolleres als die Lektüre dieses klugen Buches.

Ulrich Herbert lehrt Neueste Geschichte an der Universität Freiburg.

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