Corona-Pandemie:45 Millionen Menschen von Hungersnot bedroht

Corona-Pandemie: Adadle, Äthiopien. Das World Food Programme (WFP) versorgt Menschen, die aufgrund einer Dürre unter Hunger leiden. Die Corona-Pandemie hat die ausreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln erheblich erschwert.

Adadle, Äthiopien. Das World Food Programme (WFP) versorgt Menschen, die aufgrund einer Dürre unter Hunger leiden. Die Corona-Pandemie hat die ausreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln erheblich erschwert.

(Foto: Claire Nevill/AP)

Die Corona-Pandemie habe die schlimmste Versorgungskrise seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst, warnt David Beasley, Chef des World Food Programme. Es fehlen Milliarden Dollar, um die Bedürftigen zu versorgen.

Von Paul-Anton Krüger, Berlin

Der Chef des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP), David Beasley, warnt angesichts der fortwährenden wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie vor der "schlimmsten humanitären Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg".

Als er im April 2017 sein Amt antrat, seien bereits 80 Millionen Menschen weltweit "dem Hungertod entgegengegangen", sagte Beasley der Süddeutschen Zeitung bei einem Gespräch in Berlin. Vor zwei Jahren, direkt vor Ausbruch der Corona-Pandemie war ihm zufolge ihre Zahl bereits auf 135 Millionen Menschen gestiegen. Wichtigste Treiber dieser Entwicklung seien Konflikte und der Klimawandel gewesen, fügte er hinzu.

Inzwischen aber haben sich die Zahl nochmals mehr als verdoppelt auf mehr als 285 Millionen. Die Ursachen seien die fortwährenden wirtschaftlichen Probleme und die Unterbrechung von Lieferketten weltweit aufgrund der Corona-Pandemie. "Das ist Covid, Covid, Covid", sagte Beasley, der in Berlin Vertreter der Bundesregierung und des Bundestags traf.

Unter die von ihm genannten Zahlen fasst Beasley alle Menschen, die nach der weltweit einheitlichen Einstufung auf der internationalen fünfstufigen Krisen-Skala IPC (Integrated Food Security Phase Classification) in die Stufen drei bis fünf fallen. Es sind jene, die unter ernster akuter Unterernährung leiden (Stufe 3), einer ernsten Notsituation ausgesetzt sind, in der sie oft nicht wissen, woher sie ihre nächste Mahlzeit bekommen (Stufe 4) oder von einer akuten Hungersnot betroffen sind, in der mindestens 30 Prozent der Bevölkerung trotz humanitärer Hilfe akut unterernährt sind (Stufe 5).

Die wirtschaftlichen Corona-Folgen treffen vor allem Länder hart, die auf externe Finanzquellen angewiesen sind, etwa Überweisungen von im Ausland lebenden Bürgern, oder Tourismus. Besonders besorgniserregend ist laut dem WFP-Direktor, dass derzeit 45 Millionen Menschen in mehr als 40 Ländern von einer akuten Hungersnot bedroht sind; auf der IPC-Skala entspricht das der Stufe vier von fünf. Allein um diese 45 Millionen vor dem Verhungern zu retten, brauche seine Organisation im laufenden Jahr sechs Milliarden Dollar, sagte Beasley.

In Jemen mussten die WFP bereits die Rationen kürzen

Im Jahr 2021 stand dem WFP insgesamt ein Budget von 9,5 Milliarden Dollar zur Verfügung. Die Organisation konnte damit 118 Millionen Menschen versorgen. Unklar ist aber, ob die internationalen Geber auch dieses Jahr wieder zusätzliches Geld zur Bewältigung der Folgen der Pandemie bereitstellen.

"Wir alle haben gehofft, dass die Pandemie überwunden sein würde", sagte Beasley. "Wir standen vor dem perfekten Sturm, aber wie haben die Finanzierung erhalten, um ihn überstehen zu können." Allein die Kostensteigerungen für Transport und den Einkauf von Waren wie Grundnahrungsmittel führten dazu, dass "wir eine Milliarde Dollar zusätzlich bräuchten, allein um dieselbe Zahl von Menschen mit derselben Menge an Nahrungsmitteln zu erreichen" wie im vergangenen Jahr.

Allerdings habe sich in vielen Ländern die Wirtschaft nicht von den Problemen durch die Pandemie erholt, sondern leide im Gegenteil weiter stark unter den Folgen. Ausgehend von den Bedarfsanalysen des WFP "stehen wir vor einem Fehlbetrag von sechs Milliarden Dollar bei der Finanzierung, gemessen an unserem üblichen Budget von acht bis neun Milliarden Dollar".

In einigen Ländern, darunter Jemen, wo seit Jahren große Teile der Bevölkerung Hunger leiden und für ihr Überleben von Hilfslieferungen abhängen, musste das Welternährungsprogramm die Rationen bereits kürzen, weil die Geber nicht genug Geld bereitstellen - bei Jemen sind dies vor allem die Golfstaaten. "Wir kämpfen von Monat zu Monat", sagte Beasley. Auch in Äthiopien, Somalia und Teilen Kenias verschärfen anhaltende Dürren und teils Konflikte die Lage. Sudan, Südsudan, Nigeria, die Demokratische Republik Kongo und Syrien sind ebenfalls besonders stark betroffen.

Der WFP-Chef warnte zugleich vor Auswirkungen auch außerhalb dieser Länder, sollte die internationale Gemeinschaft zu spät reagieren. Gerade in der Sahel-Zone, wo zurzeit auch die von westlichen Ländern geführten Militäreinsätze zur Stabilisierung der Region infrage stehen, könne Hunger zu einer weiteren Destabilisierung und Migration mit Ziel Europa beitragen. Wenn Menschen weder ausreichend zu essen noch Aussicht auf ein Leben in Frieden hätten, dann "tun sie, was sie tun müssen, um ihre Familien zu schützen". Eine der Lehren aus der Krise in Syrien sei, dass die Kosten für die Versorgung der Menschen schnell um den Faktor hundert oder mehr stiegen, wenn sie getrieben von Hunger und Gewalt ihre Heimat verließen.

"Lasse ich meine Kinder verhungern oder lasse ich sie zu Tode frieren?"

"Viele Afghanen wollen nicht aus Afghanistan weggehen", sagte Beasley mit Blick auf die sich zuspitzende Situation in dem von den radikalislamistischen Taliban kontrollierten Land. "Aber wenn sie keine Nahrung haben, werden sie sich gezwungen sehen zu fliehen." Derzeit sind allein in Afghanistan 8,7 Millionen Menschen von einer akuten Hungersnot bedroht.

Auch in Äthiopien, den Ländern der Sahel-Zone und Sudan drohe weitere Destabilisierung durch Hunger-Krisen und in der Folge Fluchtbewegungen. Extremistische Gruppen wie die Terrormiliz Islamischer Staat würden sich die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage zunutze machen und Nahrung als Mittel für die Rekrutierung benutzen. "Das sehen wir sowohl in der Sahel-Zone als auch in Afghanistan", sagte Beasley.

An vielen Orten hätten die Menschen jede Fähigkeit verloren, die Krise aus eigener Kraft zu bewältigen. "Sie haben all ihren Besitz verkauft", sagt Beasley. Eltern müssten jetzt im Winter oft entscheiden, ob sie Öl zum Kochen oder Öl zum Heizen kauften, weil für beides das Geld nicht reiche. "Das ist eine unerträgliche Wahl", so der WFP-Chef: "Lasse ich meine Kinder verhungern oder lasse ich sie zu Tode frieren?"

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