Prolog
Die Idee entstand im Wohnzimmer. Der Hausherr fand, der Kandidat vertrete eine liberale Agenda, und die Frau zu Besuch jubelte danach: "Wir haben einen guten Präsidenten ausgewählt." Die Parteichefs Angela Merkel (CDU) und Guido Westerwelle (FDP) begriffen ihre Wohnzimmer-Personalie damals, im März 2004, als Vorgriff auf die neue Zeit. Rot-Grün, das war schon fast passé.
Und Horst Köhler, die "glückliche Notlösung" ( Handelsblatt), lieferte das Erwartete. Das CDU-Mitglied (seit 1981) erklärte: "Wir müssen die Leute ermutigen, Risiken einzugehen und auf Veränderungen positiv zu reagieren." Und es rutschte ihm heraus: "Ich hoffe, dass 2005 jemand von der CDU, Frau Merkel, Bundeskanzlerin ist."
Dies ist die Geschichte eines Mannes, der als Merkels U-Boot im Präsidialamt galt. Der im Mai 2004 seine Antrittsrede im Amt mit "Gott segne unser Land" beendete und rasch den langjährigen FDP-Kommunikationschef und die Geschäftsführerin der Senioren-Union in sein Team holte. Der nicht mehr Sparkassenpräsident sein wollte, sondern als Präsident Karl Popper verwirklichen
Dies ist die Geschichte von Horst Köhler, dem Pflicht-Optimisten, der scheiterte.
Erster Akt: Zweifel
Der Ärger beginnt, als Präsidentenmacherin Merkel tatsächlich Kanzlerin wird, allerdings nicht in der von Köhler erhofften Schwarz-Gelb-Kombination, sondern als Chefin einer großen Koalition. Hatte im Juni 2005 die damalige Oppositionsführerin Merkel noch die "Vorfahrt-für-Arbeit-Rede" des neuen Staatsoberhaupts gerne übernommen, so ergeben sich nun praktische Probleme.
November 2005: Angela Merkel kündigt an, einen verfassungswidrigen Haushalt vorzulegen. Das geht nicht, reagiert das Bundespräsidialamt: Der Präsident könne nicht jemanden mit der Regierungsbildung beauftragen, der einen Verfassungsbruch in Aussicht stelle. Kurz darauf verkündet Merkel, sie werde einen verfassungsgemäßen Etat präsentieren. Erstes Kopfschütteln.
Oktober 2006: Köhler lehnt ein Gesetz zur Privatisierung der Flugsicherung ab. Es verstoße gegen das Grundgesetz. Dem Präsidenten geht es um hoheitliches Handeln. Der Präsident macht gleichwohl den Weg für das Gesetz und den Gang zum Bundesverfassungsgericht frei - das Köhlers Kritik in der Sache teilt. Die FDP hatte Köhler zuvor ein Überschreiten seiner Kompetenzen vorgeworfen.
November 2006: Köhler mahnt Reformen an: "Unser Sozialstaat ist zwar teuer, aber nicht besonders wirkungsvoll." Er kritisiert Manager, die vom Vorstandsvorsitz auf den Chefsessel im Aufsichtsrat wechseln, "damit nur ja alles schön im Klub bleibt". Als Reformkanzlern sieht sich Merkel nicht. Die Union schätzt solche Wirtschaftskritik nicht.
Dezember 2006: Köhler sperrt sich auch beim Verbraucherinformationsgesetz. Grund: Nach der Föderalismusreform dürfe der Bund den Kommunen keine Aufgaben übertragen. Dieser Präsident wird unbequem.
November 2007: Köhler warnt vor einer Umkehr bei der Agenda 2010. Die Reformpolitik habe Wirkung gezeigt. Es mache ihn "fast schon zornig, wie beim Thema soziale Gerechtigkeit vor allem übers Geldverteilen geredet wird".
Zweiter Akt: Krawall
Mai 2008: Köhler hält die Finanzmärkte nun für ein "Monster", das "in die Schranken gewiesen werden muss". Die Banker hätten die eigenen Produkte nicht verstanden, das Monster habe kaum noch "Bezug zur Realwirtschaft". Und: Die meisten (der politisch kontrollierten) Landesbanken hätten "offensichtlich kein tragfähiges Geschäftsmodell". Der Präsident hat sin großes Thema gefunden. Immerhin war er einst selbst - eine Idee von Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) - geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) gewesen.
Juni 2008: In seiner "Berliner Rede", einst von Vorvorgänger Roman Herzog eingeführt, stellt Köhler fest, in Deutschland wachse die "Verdrossenheit über die Art und Weise, wie Demokratie funktioniert". Diese Verdrossenheit müsse ernst genommen werden. Und: "Die weitverbreitete Unzufriedenheit hat einen berechtigten Kern." Die Verflechtungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden erzwängen "Verhandlungen hinter geschlossenen Türen mit vielen Paketgeschäften". Hier rechnet einer mit der politischen Klasse ab.
Oktober 2008: Köhler sagt, während Bürger "viel härter" durch Jobverlust infolge der Finanzkrise betroffen wären, hätten "viele von den Finanzakrobaten, die jetzt alt aussehen, trotzdem ausgesorgt" Er plädiert für eine Weltkonferenz, um einen wirtschaftlichen Ordnungsrahmen zu schaffen. Der Markt brauche auch Moral, "da war eine Menge Unaufmerksamkeit, Selbstzufriedenheit, Zynismus". Man habe gedacht, "man könne aus nichts Gold machen".
Januar 2009: Köhler kritisiert beim Festakt zum 100-jährigen Bestehen des Deutschen Richterbunds die Verhältnisse in der Justiz und der Politik. Der Gesetzgeber und die Verwaltung sorgten zunehmend für Widersprüche und Unbestimmtheiten: "Gesetze und Verordnungen sind keine Bananen; sie dürfen nicht erst beim Abnehmer reifen." Das klingt, als meinte der Präsident, Deutschland sei auf dem Weg zur Bananenrepublik.
März 2009: Bei der "Berliner Rede" warnt der Präsident, es gebe vor einer Bundestagswahl "keine Beurlaubung von Regierungsverantwortung". Die Krise sei "keine Kulisse für Schaukämpfe". Erneut kritisiert er die Bankmanager scharf: Der Respekt vor den Sparern sei ihnen abhandengekommen und das Gefühl: "So etwas tut man nicht." Und er sagt: "Die Glaubwürdigkeit unserer Freiheit ist messbar: In der Chance zu teilen." Das trifft den Freiheitsbegriff von FDP-Chef Westerwelle nicht.
23. Mai 2009: Köhler lässt sich zum zweiten Mal wählen.
September 2009: Union und FDP gewinnen die Bundestagswahl. Merkel und Westerwelle sind tatsächlich im Amt. Köhlers Entdecker haben die Macht. Und der Präsident schweigt. Er will sich 100 Tage und mehr anschauen, was da läuft.
30. September 2009: Köhlers Freund Gert Haller erkrankt und muss das Präsidialamt verlassen. Der Staatssekretär und einstige Wüstenrot-Chef hat einst mit Köhler schon in der ersten Kohl-Regierung 1982 für Finanzminister Gerhard Stoltenberg gearbeitet. Später, bei Theo Waigel, bereiteten beide maßgeblich die Europäische Währungsunion und den Maastrichter Vertrag vor. Köhler fehlt jetzt der intellektuelle Sparringspartner.
Oktober 2009: Köhler liest beim 60. Jahrestag der Bundespressekonferenz in Berlin den Journalisten die Leviten. Er zeigt, wie wenig er von dem ganzen Berliner Medienbetrieb hält, von dem Infotainment und dem Hang, Themen hochzujazzen. "Haltung haben" und "Ahnung haben", beides sollte "mal wieder in Mode kommen", spöttelt Köhler. Die Hauptstadtjournalisten hätten sich lieber mit Ulla Schmidts Gesundheitsreform als mit der Dienstwagenaffäre beschäftigen sollen. Es fehle den Leuten und Lesern an Aufklärung. "Warum wird sie nicht geboten? Weil es mühsam ist, sich die Urteilsfähigkeit zu erarbeiten, die nötig ist, um glaubwürdig Aufklärung zu betreiben? Weil es auch für Mitglieder der Bundespressekonferenz die Versuchung gibt, Kompetenz lediglich zu suggerieren? Vielleicht lässt sich auf Bundesebene auch leichter schummeln als zum Beispiel im Lokaljournalismus." Verleger und Redaktionen sollten "innere Einkehr" halten.
Der Mann protestiert auf seine Weise gegen die als drückend empfundenen Zustände.
Köhler äußert sich im gleichen Monat auch zur Finanzindustrie: "Ich sehe das Monster noch nicht auf dem Weg zur Zähmung." Er redet vom "Déjà-vu mit Hütchenspielern im Shadow-Banking, mit intransparenten Derivatgeschäften und Spekulation auf den Rohstoffmärkten". Und: "Es sieht so aus, als ob die Branche die Politik im Regen stehen lassen würde." Er fordert einen starken Staat "oberhalb der Wirtschaft". Für die Liberalen klingt das fast wie Sozialismus.
Dritter Akt und Finale: Erschöpfung
März 2010: Köhler nennt den Start der schwarz-gelben Regierung "enttäuschend". Er entwirft im Focus-Interview Ideen zur Rettung überschuldeter Staaten und spricht sich für einen höheren Benzinpreis aus - alles Themen, die Gift für Merkel sind. Ja, der Präsident mokiert sich über das "Wachstumsbeschleunigungsgesetz", auf das die Kanzlerin so stolz ist: Das wirke so, als ob immer der Staat für Wachstum sorgen müsse. Und dann: Er könne nicht ausschließen, "dass Steuererhöhungen nötig sein könnten", Steuersenkungen à la FDP wären ein "Vabanquespiel". Das kommt schlecht an im Regierungslager, so kurz vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, wo doch die Parteien CDU, CSU und FDP ganz anderes verbreiten. Köhler kritisiert auch noch Westerwelle und seine Hartz-IV-Äußerungen ("man kann diese wichtigen Themen anders anpacken") sowie die hohe Verschuldung: "Wir müssten uns eigentlich vor unseren Kindern schämen." Der Ton wird schärfer.
Erstmals seit der Bundestagwahl trifft Köhler mit dem schwarz-gelben Kabinett zusammen. Er hat es ins Schloss Bellevue eingeladen.
29. April 2010: Köhler fordert "harte Regeln für die Finanzindustrie". Diese kreditgetriebene Branche sei "Pumpkapitalismus". Sie müsse wieder zur "dienenden Rolle" zurückfinden.
Mai 2010: Mehrere Presseberichte über Krach auf Schloss Bellevue. Pressesprecher Martin Kothé, einst FDP-Kommunikator, geht ebenso wie die Büroleiterin Elisabeth von Uslar, die Frau von der Union. Sie kommen mit Hallers Nachfolger, dem neuen Staatssekretär Hans-Jürgen Wolff, offenbar nicht klar. Aber wer kann schon mit wem in der schwarz-gelben Machtwelt? Köhler ist isoliert. Seinen Protektorparteien von einst ist er zu aufmüpfig, den Linken wiederum ist er verdächtig, die Presse lästert über ihn. Da nutzen auch grandiose Umfragewerte als "Bürgerpräsident" nichts. Was soll er, der die Welt ein bisschen besser machen will, noch bewegen?
14. Mai 2010: Zur Amtseinführung des neuen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts übt Köhler wieder Kritik an den Berliner Verhältnissen. Der Hüter der Verfassung in Karlsruhe sei "nicht gedacht als Ersatz für Politik". Das Verfassungsgericht könne "den Bürgern und ihren Repräsentanten die Aufgabe nicht abnehmen, selber politisch zu denken, zu streiten, zu entscheiden und dann auch zu handeln". Darum sei "es eigentlich eine Anomalie demokratischer Politik, wenn das Gericht rechtspolitisches 'Agenda-Setting' betreibt, vielleicht betreiben muss, wie es das in nicht wenigen Entscheidungen schon getan hat". Auf Deutsch: Die Politik bekommt immer weniger hin.
27. Mai 2010: Äußerungen von Köhler rund um einen Afghanistan-Besuch werden zitiert und diskutiert. In einem Interview mit dem Deutschlandradio (22. Mai) stellte er einen Zusammenhang zu wirtschaftlichen Interessen her und spricht missverständlich von Sicherung der Handelswege.
29. Mai: Ein Sprecher des Bundespräsidialamtes erklärt, Präsident Köhler prüfe derzeit das Gesetz zum Euro-Rettungsschirm. "Versehentlich" sei bereits am Vortag eine Bestätigung verschickt worden, wonach Köhler das Gesetz ausgefertigt und den Verkündungsauftrag erteilt habe. Ging es da einigen in der Regierung nicht schnell genug? Köhler unterzeichnet das Euro-Rettungsgesetz dann doch, das Merkel in Rekordzeit durch Bundestag und Bundesrat gepeitscht hat. Der CSU-Abgeordnete Peter Gauweiler wird später verbreiten, dem Präsidenten sei das rasche Tempo nicht recht gewesen. Konflikte also wie bei den Gesetzen zur Flugsicherung und der Verbraucherinformation?
31. Mai 2010: Köhler tritt zurück. Die Kritik an ihm "lasse den notwendigen Respekt für sein Amt vermissen". Er scheint die Journalisten mit ihren Afghanistan-Artikeln zu meinen, die Vorwürfe, er sei ungeschickt wie einst Heinrich Lübke. Oder meint er in Wirklichkeit jemand anderes, die Kanzlerin und ihren Stellvertreter? Offenbar war der Druck jener Leute von Union und FDP riesengroß, die ihn einst gekürt hatten. Köhler erfüllte die parteitaktischen Erwartungen nicht. Er war aus machtpolitischer Sicht undankbar.
Für Angela Merkel steht fest, dass der nächste Präsident kein Nichtpolitiker sein darf, sondern jemand aus dem Milieu: Christian Wulff. Einen Tag später wird Köhler seinen Mitarbeitern sagen: "Ein Rücktritt ist das Einzige, was dem Land dient."
Epilog
Der Publizist Hugo Müller-Vogg, der einen Band mit Köhler-Gesprächen veröffentlicht hat, erklärte schon 2004: "Sich instrumentalisieren lassen, das ist seine Sache nicht." Die jeweiligen Regierungschefs müssten sich auf einen "eigenständigen, völlig unabhängigen Präsidenten einstellen". Damals wollte das keiner glauben. Auch Angela Merkel und Guido Westerwelle nicht.
Zapfenstreich.