Hongkong:Formell für tot erklärt

Regierungschefin Carrie Lam will das Auslieferungsgesetz mit China nun zurückziehen. Ob das die Lage in der Stadt entspannen kann, ist allerdings unklar.

Von Lea Deuber, Peking

Demonstrator is detained by police officers during a protest in Hong Kong

Staatsgewalt, wörtlich genommen: Hongkonger Polizisten drücken am vergangenen Samstag einen Demonstranten zu Boden.

(Foto: Danish Siddiqui/Reuters)

Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam will das umstrittene Auslieferungsgesetz mit China komplett zurückziehen. Das ist das Ergebnis einer internen Sitzung mit Abgeordneten und Hongkonger Delegierten des chinesischen Volkskongresses am Mittwoch. "Die Regierung wird das Gesetz formell zurückziehen, um die Sorgen der Öffentlichkeit zu zerstreuen", sagte Lam in einer Stellungnahme. "Die anhaltende Gewalt beschädigt die Grundfesten unserer Gesellschaft, besonders die Geltung des Rechts." Neben dem kompletten Rückzug des Gesetzes will die Regierungschefin der chinesischen Sonderverwaltungszone auch zwei Mitglieder zusätzlich in ein bereits existierendes Kontrollgremium der Polizei entsenden. Die Börse in Hongkong legte nach Bekanntwerden der Entscheidung um mehr als vier Prozent zu.

Die Demonstranten fordern eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt

Unklar ist, ob der Rückzug die Lage in der Stadt entspannen kann. Bereits im Juli hatte Lam den Entwurf für tot erklärt. Wenn nicht unmöglich, galt es doch als unwahrscheinlich, dass sie das geplante Abkommen kurzfristig noch einmal ins Parlament einbringen würde. Trotzdem waren die Menschen in den vergangen drei Monaten weiter auf die Straße gegangen. Die Bewegung sprach fortan von fünf Forderungen an die Regierung. Dazu gehören eine Amnestie für die verhafteten Protestierenden, die Proteste sollen nicht mehr als Aufstände bezeichnet werden, und die Hongkonger das Recht bekommen, den Regierungschef zu wählen; dieser wird in der chinesischen Sonderverwaltungszone von Peking bestimmt. Das war 2014 die zentrale Forderung der pro-demokratischen Regenschirm-Bewegung, bei der Demonstranten über Monate die Hongkonger Innenstadt besetzten. Als letzte Forderung soll eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt eingeleitet werden. Das Versprechen von Lam am Mittwoch, zwei zusätzliche Vertreter in das bereits existierende Gremium der Polizei zu entsenden, dürfte viele in der Stadt nicht besänftigen.

Die unabhängige Untersuchung gehört zu den zentralen Forderungen der Demonstranten. In den vergangenen Wochen wurden immer wieder Demonstranten und Polizisten bei Kundgebungen verletzt. Empörung hatte zuletzt das Stürmen einer U-Bahn-Station durch die Polizei in der Nacht zu Sonntag hervorgerufen. Die Einsatzkräfte hatten Passagiere verprügelt und mit Pfefferspray attackiert, wie Videoaufnahmen und Augenzeugenaussagen bestätigen. Es gab viele Verletzte. In den vergangenen Tagen gab es mehrmals Versammlungen vor der Polizeiwache in der Nähe der betroffenen U-Bahn-Station. Auch bei diesen gingen die Einsatzkräfte hart gegen Teilnehmer der Proteste vor und nahmen mehrere Menschen fest. Darunter waren Anwohner, die sich kurzfristig den Protesten vor der Station angeschlossen hatten.

Der bekannteste Hongkonger Aktivist Joshua Wong bezeichnete die Ankündigung von Carrie Lam am Mittwoch als "zu wenig und zu spät". Die Bürger glaubten nicht mehr an die Aufrichtigkeit der Regierungschefin. Wong war selber vorige Woche kurzzeitig festgenommen worden. Seine Kollegin aus der Demosisto-Partei, Agnes Chow, die ebenfalls für einige Stunden von der Polizei festgehalten wurde, schrieb auf Facebook: "Vergesst nicht unsere Kameraden, die wir verloren haben, vergesst nicht die Kameraden, die verletzt wurden. Wenn wir aufgeben, wird Hongkong sterben." Seit Beginn der Ausschreitungen sind rund 1200 Menschen festgenommen worden. Allein am Samstag wurden über 60 Menschen bei den Demonstrationen verletzt, darunter fünf schwer.

Das Auslieferungsabkommen hätte ermöglicht, auf Ersuchen chinesischer Stellen Verdächtige aus Hongkong nach Festlandchina auszuliefern. Bisher hat die chinesische Sonderverwaltungszone nur mit 20 Ländern entsprechende Regelungen. Die chinesische Regierung drängte seit Langem auf eine Regelung, um die rechtliche Lücke zu schließen. Die Hongkonger fürchten hingegen, dass Peking das Gesetz nutzen könnte, um unliebsame Kritiker nach China zu verschleppen. Deutschland hat ein Auslieferungsabkommen mit Hongkong. Auch die Bundesregierung hatte im Sommer angekündigt, im Fall einer Vereinbarung zwischen Hongkong und Peking das eigene Abkommen mit der chinesischen Sonderverwaltungszone zu überdenken. Chinas Regierung äußerte sich bisher nicht zu der Entscheidung in Hongkong am Mittwoch. Auch die meisten Staatsmedien schwiegen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: