Süddeutsche Zeitung

Widerstand gegen die Nazis:Idealisten in dunkler Zeit

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Mark Roseman erzählt vom Widerstand einer wenig bekannten Gruppe aus dem Ruhrgebiet, der "Gemeinschaft für sozialistisches Leben". Ihre Hilfe für Juden wurde nach dem Krieg nicht anerkannt.

Rezension von Wolfgang Benz

Ist die "Gemeinschaft für sozialistisches Leben" der Aufmerksamkeit der Historiker lange entgangen, weil die Gruppe so klein war? Oder weil die Widerstandsforschung so lange auf den 20. Juli 1944 und dessen Protagonisten fixiert war? Oder weil sie nicht wie diese oder die Studenten der Weißen Rose in München Opfer monströser Nazi-Justiz wurden? Oder war der Kreis wirklich so marginal, wie er von der Widerstandsforschung eingeschätzt wurde? Der britische Historiker Mark Roseman hat sich nun mit akribischer Sorgfalt und großer Kompetenz dieser notorisch unzeitgemäßen Gruppe angenommen.

Der Sehnsucht nach Gemeinschaft in den Traditionen der Jugendbewegung und den Idealen der Lebensreform verpflichtet, politisch in der Arbeiterbewegung als Splittergruppe zwischen SPD und KPD, aber auch im protestantisch-pietistischen Milieu verortet, hatten sich 1924 im Ruhrgebiet Menschen zusammengefunden. "Bund: Gemeinschaft für sozialistisches Leben" nannten sie sich, Gründer waren Lehrer und Schüler der Essener Volkshochschule.

Die Gemeinde zählte im Zenit ihrer Existenz an die 200 Mitglieder. Sie existierten im Charisma Artur Jacobs', der, kaum 40 Jahre alt, 1919 als radikaler Reformpädagoge aus dem Gymnasium gedrängt worden war. Jacobs engagierte sich dann in der Erwachsenenbildung, sammelte Gleichgesinnte um sich und war Mittelpunkt des durch Weltanschauung und Rituale als elitär und esoterisch zu charakterisierenden Bundes. Verpflichtungszeremonien mit Eidesleistung auf das "Bundesgesetz" postulierten den Vorrang der Gemeinschaft vor allem Privatem.

Das Leben der Mitglieder war durch regelmäßige Diskussionen, Sport, Musik, durch Exerzitien und gemeinsame Ferien bestimmt. Immanuel Kant mit der Forderung nach der Freiheit des Individuums und Karl Marx als Künder des Materialismus bildeten die geistigen Koordinaten; politisches Ziel war, die beiden philosophischen Systeme in Einklang zu bringen.

Im Gegensatz zu den bekannten großen linken Zwischengruppen - Rote Kämpfer, Neu Beginnen, Internationaler Sozialistischer Kampfbund - blieb der "Bund" auf sich selbst bezogen, regional auf das Ruhrgebiet und im Selbstverständnis auf seine jugendbewegte, lebensreformerische und linke Ideologie. In einer Hinsicht ist der "Bund" mit den allerdings aktiver agierenden Gruppen "Onkel Emil" in Berlin, der "Gemeinschaft für Frieden und Aufbau" in Luckenwalde und der kommunistischen Herbert-Baum-Gruppe in Berlin zu vergleichen: wegen der jüdischen bzw. der nach NS-Ideologie als "Juden" diskriminierten Mitglieder. Im "Bund" war das an erster Stelle Dore Jacobs, die im Gymnasium Schülerin von Artur Jacobs gewesen war, sie heirateten später. Dore stammte aus einer assimilierten und gesellschaftlich arrivierten jüdischen Familie, sie betrieb eine Gymnastikschule, lehrte Ausdruckstanz und war im "Bund" für Körperkultur zuständig.

Die Gruppe hatte bis zu 200 Mitglieder, nach dem Krieg wollte sie weitermachen

Bis 1938 hatte sich der Bund darauf konzentriert, das Eigene zu bewahren und gegenüber der NS-Überwachung zu verteidigen. Dazu machten die Mitglieder Konzessionen an das Regime und verzichteten auf Widerstand durch Flugblätter oder andere Propagandaaktionen. Auf die "Reichskristallnacht" reagierten sie dann aber mit tätiger Solidarität für Juden. Nicht nur für die in den eigenen Reihen. Besuche in den "Judenhäusern", Trost und Zuspruch, materielle Unterstützung und Hilfe auf dem Weg zur Deportation standen am Anfang, Pakete an die Deportierten folgten, ab Frühjahr 1942 war der Schutz im Untergrund durch die Gewährung von Versteck und Nahrung die letzte Möglichkeit Juden zu helfen, sie womöglich zu retten.

Trotz der Gefährdung in den eigenen Reihen (insbesondere der Bund-Mitglieder, die als Juden in "Mischehe" lebten oder "Mischlinge" waren), setzte der innere Kern das Gemeinschaftsleben in Ansätzen fort. Nach der Befreiung, die Artur und Dore Jacobs und einige Getreue in Meersburg am Bodensee erlebten, schmiedeten sie sofort Pläne für den politischen und moralischen Wiederaufbau Deutschlands. Aber niemand rief sie.

Die Gemeinschaft setzte ihre Mission in ihrer idealistischen Manier nach 1945 fort, propagierte ihr Gesellschaftsmodell, das nicht in die Nachkriegszeit und ebenso wenig in die Adenauer-Ära passte, setzte auf Volksbildung und stilisierte sich selbst als Widerstandsgruppe in der Hoffnung auf verdienten Nachruhm. Außer den eigenen Schriften reichte es aber nur zur Erwähnung in Günter Weisenborns Memorial "Der lautlose Aufstand". Und Yad Vashem mochte die Hilfe für Juden nicht als Rettungsheroismus kanonisieren.

Rosemans Buch ist hervorragend recherchiert und eingängig geschrieben. Die emotionale Herangehensweise des Autors, der gerne Einblick in seine Werkstatt und sein Fühlen gewährt ("als ich eine bereits sehr gebrechliche und kranke Änne Schmitz interviewte"), wird als Huldigung an den Zeitgeist gewiss von vielen goutiert, die betuliche (und gelegentlich oberlehrerhafte) Intonation, in der historischer Hintergrund und Kontext erklärt werden, ermüdet jedoch irgendwann und nährt den Wunsch nach einem Lektorat, das im Blick gehabt hätte, dass die Leser des amerikanischen Originals mehr (und anderes) erklärt bekommen müssen als die der deutschen Übersetzung.

Trotzdem: Ein weithin unbekannter Aspekt der Geschichte der Selbstbehauptung und des Widerstands im Dritten Reich ist akribisch erforscht und als Paradigma unkonventionellen Verhaltens einfühlsam dargestellt. Ein sehr zu schätzender Beitrag zur Geschichte menschlichen Verhaltens unter dem Unrechtsregime des Nationalsozialismus.

Der Zeithistoriker Wolfgang Benz veröffentlichte zuletzt: "Protest und Menschlichkeit. Die Widerstandsgruppe 'Onkel Emil' im Nationalsozialismus" (Reclam).

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SZ vom 20.07.2020
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