Süddeutsche Zeitung

Holocaust:Warum eine Auschwitz-Überlebende den Tätern von einst vergibt

Als Zehnjährige kam Eva Mozes Kor ins KZ, Josef Mengele führte an ihr Experimente durch. Heute reist sie durch die Welt und erklärt, dass Vergeben nicht Vergessen ist, sondern eine Form von Macht.

Von Verena Mayer

Es war eine Geste, die weltweit Schlagzeilen machte: 2015 reichte eine der letzten Holocaust-Überlebenden einem früheren Wachmann von Auschwitz die Hand zur Versöhnung. Der hatte an der Rampe Dienst gehabt, als die damals zehnjährige Eva Mozes Kor mit ihrer Familie aus einem Viehwaggon getrieben wurde, eine von 430 000 ungarischen Juden, die 1944 in Auschwitz ankamen. Der heute 95-jährige Oskar Gröning wurde in Lüneburg wegen Beihilfe zum Massenmord zu vier Jahren Haft verurteilt. Ein historischer Prozess gegen einen der vielen Handlanger des NS-Regimes, die über Jahrzehnte von der deutschen Justiz unbehelligt geblieben waren.

Eva Mozes Kor erzählte erst in dem Prozess, wie sie unter den Augen Grönings von ihren Eltern und Geschwistern getrennt wurde, sie sah ihre Familie nie wieder. Wie sie mit ihrer Zwillingsschwester Miriam zu Josef Mengele kam, der an den beiden Mädchen seine Menschenversuche durchführte, ihnen Keime spritzte und sie mit Tuberkulose-Bakterien infizierte, bis sie schwer krank wurden. Und dann stand Eva Mozes Kor auf, legte Oskar Gröning eine Hand auf die Schulter und sagte, sie vergebe ihm.

Wer ist diese Frau? Und wie kommt eine Überlebende dazu, mit 82 Jahren einen Mann zu umarmen, der dem Landgericht zufolge dazu beigetragen hat, die Todesmaschinerie von Auschwitz am Laufen zu halten? Fragen, die man Eva Mozes Kor persönlich stellen kann. Sie reist durch die Welt, um ihre Geschichte zu erzählen, gerade ist sie in Berlin, um ihre Autobiographie vorzustellen, "Die Macht des Vergebens" heißt sie. Eine resolute und humorvolle Amerikanerin, die ohne Pause redet und der man das Alter nicht ansieht. Nur, wenn sie sich bewegt, merkt man, wie gebrechlich sie ist, die Spätfolgen von Auschwitz trägt sie bis heute in ihrem Körper.

Die Frage, wie man vergeben könne, was doch unverzeihbar sei, höre sie oft, sagt Eva Mozes Kor: "Ich antworte dann immer mit einer Gegenfrage: Habe ich nicht das Recht, frei zu sein von dem, was die Nazis mir angetan haben?" Vergeben sei nicht Vergessen, sondern eine Form von Macht: sich von etwas loszusagen, die Kontrolle über das eigene Leben wiederzugewinnen. Als Opfer etwas zu tun, wogegen sich ein Täter nicht wehren könne. Man müsse dafür nicht religiös sein, "man muss nur erkennen, dass man die Macht hat und sich selbst retten kann", sagt Mozes Kor beim Gespräch in der Lobby eines Berliner Hotels.

Allerdings macht sie sich mit ihrer Botschaft vom Versöhnen nicht nur Freunde. Von der deutschen Presse musste sie sich vorwerfen lassen, eine Show abzuziehen, im Prozess gegen Gröning distanzierten sich die anderen Nebenkläger von ihr, nannten ihr Verhalten widersprüchlich. Das mache sie traurig, sagt Eva Mozes Kor. "Ich frage dann, warum seid ihr wütend auf mich? Ich habe euch doch nichts getan, ich habe nur den Nazis vergeben. Dann sagen sie: Du verletzt uns. Aber warum?"

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