Justiz:Leugnen zwecklos

Justiz: Oleg Kotenko, Beauftragter für Vermisstenfragen, filmt nicht identifizierte Gräber von Zivilisten und ukrainischen Soldaten in Izium.

Oleg Kotenko, Beauftragter für Vermisstenfragen, filmt nicht identifizierte Gräber von Zivilisten und ukrainischen Soldaten in Izium.

(Foto: Evgeniy Maloletka/DPA)

Massaker in der Ukraine, Völkermord in Afrika: In Deutschland soll künftig die Verharmlosung aller Genozide und Kriegsverbrechen weltweit unter Strafe stehen.

Von Ronen Steinke, Berlin

In Deutschland ist es strafbar, den Holocaust zu leugnen. Klar. Das ist bekannt. Aber warum ist es nicht auch strafbar, den deutschen Völkermord an den Herero und Nama zu leugnen? Also die Massaker im heutigen Namibia in den Jahren 1904 bis 1908? Oder die Massaker zur Unterdrückung des Maji-Maji-Aufstands in Deutsch-Ostafrika in den Jahren 1905 bis 1907? Oder den Völkermord an den amerikanischen Ureinwohnern im 16. Jahrhundert? Mit welchem Recht darf man in Deutschland eigentlich munter die Gräuel des Stalinismus leugnen, ebenso wie auch die Verbrechen des Kolonialismus - bloß nicht den Holocaust?

In eine neu aufgeflammte Debatte über die Singularität des Holocaust, die seit einiger Zeit von Historikerinnen und Historikern der Postkolonialen Studien wie etwa Achille Mbembe eingefordert wird, platzt jetzt eine überraschende Antwort des deutschen Gesetzgebers hinein. Diese Antwort lautet: In Deutschland wird es künftig auch strafbar sein, Kriegs- und Menschheitsverbrechen zu leugnen oder "gröblich" zu verharmlosen, die in anderen Weltregionen stattfanden. Ein Bezug zu Deutschland ist nicht nötig.

Eine entsprechende Ergänzung der Vorschrift gegen Volksverhetzung, Paragraf 130 des Strafgesetzbuchs, hat der Bundestag gerade beschlossen. Bis zu drei Jahre Haft drohen nun jedem, der ein solches Verbrechen "in einer Weise billigt, leugnet oder gröblich verharmlost", die geeignet ist, "den öffentlichen Frieden zu stören".

Abschied vom exklusiven Fokus auf die "Auschwitz-Lüge"

Diese neue Strafdrohung ist "sehr weitgehend", sagt der Strafrechtler Martin Heger, der an der Berliner Humboldt-Universität lehrt und auf Hate-Speech-Delikte spezialisiert ist. Denn damit verabschiedet sich die Bundesrepublik von ihrem bisherigen exklusiven Fokus auf die "Auschwitz-Lüge", also der Behauptung, der Holocaust habe nie stattgefunden, als einzigem justiziablen Fall von Geschichtsrevisionismus. Anders ausgedrückt: Damit fordert der Gesetzgeber die hiesigen Staatsanwaltschaften auf, sich von nun an in mehr historische Debatten einzumischen als bisher.

"Armenien wäre locker erfasst", sagt Martin Heger mit Blick etwa auf den türkischen Völkermord an den Armeniern in den Jahren 1915 und 1916. Das heißt: Beim nächsten Streit, ob dieser Genozid ein Genozid war, der hierzulande etwa türkische Anhänger der Erdoğan-Regierung aufregen und somit den "öffentlichen Frieden" gefährden kann, könnten Strafanzeigen wegen Leugnung erstattet werden.

Ebenso sei dies vorstellbar bei einem Streit über aktuelle russische Kriegsverbrechen in der Ukraine. Denn: Wer Massaker wie in Butscha leugne oder ihnen gar applaudiere, sagt der Jurist Heger, der könne den Frieden "zwischen russischen und ukrainischen Emigranten in Deutschland" gefährden. Auch das wäre dann theoretisch ein Fall für die Staatsanwaltschaft.

Deutschland setzt bloß eine EU-Vorgabe um

Bemerkenswert ist, wie still und leise diese Änderung gekommen ist. Eine größere Ankündigung hatte es nicht gegeben, stattdessen hatte das Justizministerium von Marco Buschmann (FDP) eine zunächst nicht öffentliche "Formulierungshilfe" an den Rechtsausschuss gegeben. Der Ausschuss hatte den Text dann am Mittwoch an ein unscheinbares Reformgesetz zum Bundeszentralregister angehängt. So konnte es schnell gehen: Am Donnerstagabend kurz vor 23 Uhr stimmten die Ampelfraktionen im Bundestag gemeinsam mit der Union bereits final zu. Aus Sicht des Ministeriums ist indes gar nichts Dramatisches geschehen. Deutschland setze bloß eine Vorgabe der Europäischen Union um.

Tatsächlich verlangt ein Rahmenbeschluss der EU seit 2008, dass Mitgliedstaaten gegen Geschichtsrevisionismus vorgehen. Die Initiative kam damals von Osteuropäern, die sich gegen die Verklärung stalinistischer Verbrechen wenden wollten. Allerdings ist die neue deutsche Rechtslage nun sogar schärfer, als es die EU verlangt. Die EU verlangte nur, dass "gerichtlich festgestellte" Kriegsverbrechen gegen Leugnung geschützt werden. Deutschland verzichtet auf diese Einschränkung. Die EU verlangte nur, dass das "öffentliche" Leugnen unter Strafe gestellt wird. Deutschland geht nun weiter und pönalisiert auch, wenn dies bei einer nicht-öffentlichen Versammlung geschieht, etwa in einer Halle.

Die Singularität des Holocaust indes wird auch nach der Gesetzesverschärfung, über die am 25. November noch der Bundesrat zu entscheiden haben wird, betont. So können deutsche Staatsanwaltschaften in Bezug auf den Holocaust jede "Verharmlosung" verfolgen - bei den übrigen weltweiten Kriegsverbrechen aber nur eine "gröbliche" Verharmlosung. Auch ist die Strafe für Holocaust-Leugnung weiterhin höher. Es sind bis zu fünf Jahre Haft, während für die Leugnung aller übrigen Kriegsverbrechen weltweit künftig bis zu drei Jahre Haft vorgesehen sind.

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