Holocaust:Verbrechen ohne Zeugen

Gedenkfeier in Bergen-Belsen

György Denes (r), Überlebender aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen, im Gespräch mit einem Schüler (Archivbild).

(Foto: dpa)
  • Gegen das Vergessen haben Holocaust-Überlebende wie Max Mannheimer angekämpft, der Ende September im Alter von 96 Jahren starb.
  • Bald sind die Jahre vorüber, in denen Überlebende und Zeitzeugen selbst ihre Geschichte erzählen konnten.
  • Die Mitarbeiter der Gedenkstätten an ehemaligen Konzentrationslagern sind sicher: Das viel gefürchtete Vergessen der NS-Verbrechen werde es nicht geben.

Von Ulrike Heidenreich und Joachim Käppner

Der einzelne Mensch: Dachau

Die KZ-Gedenkstätte Dachau ist die meistbesuchte in der Bundesrepublik, pro Jahr kommen etwa 800 000 Besucher. Leiterin Gabriele Hammermann beobachtet, dass das Interesse nicht nachlasse, im Gegenteil. "Manchmal erleben wir, dass die Besucher von der schieren Größe dieser Einrichtungen überrascht sind. Durch dieses direkte Erleben werden den Menschen neue Zusammenhänge klar", sagt sie.

Der Tod von Max Mannheimer werde in Dachau stark spürbar sein. "Diese emotionale Brücke, die die Überlebenden zu den Zuhörern geschlagen haben, insbesondere Max Mannheimer auf seine sehr versöhnliche Art und Weise, die wird es nicht mehr geben. Wir befinden uns im Umbruch vom kommunikativen zum kulturellen Gedenken." An Mannheimer erinnert auch das Online-Projekt "Dachauer Dialoge".

Das Interesse sei besonders groß an Exponaten, die etwas über einzelne Menschen aussagen, berichtet Gabriele Hammermann. Etwa an einer Schubkarre, die in der Dauerausstellung gezeigt wird. Vor einigen Jahren wurde sie auf dem Dachboden des so genannten Kräutergartens gefunden. Das war das Gebäude der "Deutschen Versuchsanstalt für Ernährung", was so harmlos klingt und doch eines der grausamsten "Arbeitskommandos" in Dachau war: "Wir stellen die Schubkarre zusammen mit einer Zeichnung eines Überlebenden aus, die zeigt, dass damit abends die Leichen der zu Tode erschöpften Mithäftlinge zurück ins Lager gefahren wurden."

Die Kunst der Interpretation: Buchenwald

"Moralisierendes Pathos erzeugt auf Dauer Widerwillen und kein historisches Begreifen. Unmittelbar erleben und verlebendigen lässt sich Vergangenheit nicht. Denn Geschichte als Darstellung der Vergangenheit ist nicht Spiegel, sondern Konstruktion und Interpretation", schreibt Volkhardt Knigge, Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, im Katalog zur neu konzipierten Dauerausstellung. Damit ist auf den Punkt gebracht, wie sehr die Verantwortung der Gedenkstätten wächst. Sie müssen, wenn niemand mehr aus eigenem Erleben vom Naziterror berichten kann, die Besucher erreichen, bewegen, überzeugen, ohne sie mit verstiegenen Konzepten zu bevormunden, und ohne moralische Lehren mit erhobenem Zeigefinger zu vermitteln.

Die neue Ausstellung über Buchenwald, wo 56 000 Menschen ermordet wurden, haben Überlebende mitgestaltet, und sie erinnert umfangreich an Zeitzeugen wie Eugen Kogon oder Bruno Bettelheim, die das Grauen des Lagers früh geschildert und analysiert haben. Sie wollten, so Knigge, "nicht bloß eine erkenntnisarme Darstellung von Leid und Gewalt" - sondern verstehen helfen, wie es so weit kommen konnte und wie sich verhindern lässt, dass sich der Zivilisationsbruch wiederholt.

Jugendliche erreichen: Ravensbrück

In den Albträumen eines Gedenkstättenleiters ist alles didaktisch und interaktiv aufs Vorbildlichste vorbereitet - und kaum jemand interessiert sich dafür. Insa Eschebach muss sich da keine Sorgen machen: "Das Interesse nimmt seit Jahren zu", sagt sie, nach Ravensbrück kommen 150 000 Besucher im Jahr.

Ravensbrück war einer von vielen Schreckensorten in einem Land, in dem viele nachher behaupteten, sie hätten nichts gesehen und nichts gewusst. In dem Konzentrationslager waren überwiegend Frauen eingesperrt, wohl ein Fünftel der etwa 150 000 Häftlinge starb. Seit den Achtzigerjahren sind die Überlebenden vor der Kamera befragt worden, die Interviews kann man in der Ausstellung ansehen. In gewisser Weise muss nun der Ort selbst Zeugnis ablegen. Leiterin Eschebach will, dass die Besucher dem Konzept der Ausstellung nicht passiv unterworfen sind. Es gibt Seminare und Workshops, Jugendliche lesen sich, zum Beispiel, in verteilten Rollen die Erinnerungen von Häftlingen vor und fühlen sich so hinein deren Leben. Eschebach ist, selbst angesichts des steigenden Fremdenhasses im Land, optimistisch, dass die meisten Menschen Lehren aus der Vergangenheit ziehen wollen.

Manchmal rufen bei ihr noch sehr betagte Damen an, aus Israel oder den USA. Sie wollen einfach reden, erzählen über das, was sie in Ravensbrück erlebten und was niemals von der Seele wich: "Das ist wirklich herzzerreißend."

Nach dem Schweigen: Theresienstadt

Die letzten 20 Zeitzeugen, die in die Gedenkstätte Terezín in Tschechien zu Vorträgen und Treffen kommen, waren noch Kinder, als sie zu einem Leben im Ghetto Theresienstadt gezwungen wurden. Nun sind sie gut 70 Jahre älter, "aber noch sehr aktiv", sagt Vojtech Blodig, der stellvertretende Direktor der Gedenkstätte. Systematisch haben die Mitarbeiter dort in den vergangenen Jahren Film- und Tonaufnahmen der Zeitzeugen angefertigt, für Vorträge an Schulen und für die Dauerausstellung. Außerdem arbeiten sie eng mit der Shoah Foundation in Kalifornien zusammen. Der amerikanische Regisseur Steven Spielberg hatte diese gemeinnützige Organisation gegründet, nachdem ihn während der Dreharbeiten zum Kinofilm "Schindlers Liste" in Krakau viele Holocaust-Überlebende baten, ihre Lebensgeschichte für Nachwelt aufzuzeichnen. "Diese persönlichen Aussagen vermitteln eine immense bleibende Nähe", sagt Blodig.

Generell hat er die Erfahrung gemacht, dass die Zeit nicht gegen, sondern für die Gedenkstätten arbeitet. "Viele historische Fakten wurden bei uns lange verschwiegen oder ideologisch verbrämt", sagt er über die Zeit des Sozialismus. Dass auch in Terezín die Besucherzahlen beständig steigen, erklärt er mit einem großen Informations- und Nachholbedarf. "Vor 25 Jahren wussten viele Menschen in Terezín gar nicht, dass es hier ein jüdisches Ghetto gab. Die Besucher aus dem Ausland waren besser informiert."

Brücke in die Gegenwart: Alte Synagoge, Essen

Es ist fast keiner mehr da. Die gebürtige Essenerin Lotte Fröhlich zum Beispiel, die einst nach Deutschland zurückkehrte, in jene Heimat, die ihr ans Leben gewollt hatte, kann nicht mehr Zeugnis ablegen. Sie starb vergangenes Jahr. Die Zeitzeugen werden weniger, doch die Alte Synagoge in Essen bleibt. Ihre Fassade, in der Kaiserzeit massiv gebaut wie für eine Ewigkeit, überstand die Pogromnacht von 1938 und die Bombenangriffe. Seit 2010 ist sie ein Zentrum für jüdische Kultur.

Gedenkfeier in Bergen-Belsen

Der Holocaust-Überlebende Dénes György, der im vergangenen Jahr starb, spricht im Jahr 2013 in der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen mit einem Schüler.

(Foto: dpa)

Man müsse sich nichts vormachen, sagt Leiter Uri Robert Kaufmann: "Der Tod der meisten Zeitzeugen reißt schon eine große Lücke, und kein Film kann die Begegnung mit ihnen ersetzen." Die Arbeit schlägt heute die Brücke in die Gegenwart, etwa zu dem gar nicht so kleinen Wunder der Renaissance jüdischen Lebens in Deutschland. Was die Zeitzeugen berichteten, ist in Essen digitalisiert, und Kaufmann sagt: "Das ist ein Schatz aus Erinnerung."

"Open Space": Flossenbürg

"Mir fällt es schwer, es als Mantra zu beklagen, dass die Zeitzeugen immer weniger werden. Das ist ein Faktum, es geht darum, wie wir uns dazu verhalten", sagt Jörg Skriebeleit, Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg in der Oberpfalz. Natürlich "ist die Präsenz der Überlebenden unersetzlich". Füllen will man diese Lücke in Flossenbürg unter anderem mit internationalen Jugendbegegnungen.

Seit einiger Zeit veranstaltet die Gedenkstätte auch Begegnungen von Enkeln - sowohl jener von ehemaligen Häftlingen als auch der Täter. "Die Gespräche sind durchaus kontrovers, die Enkel unterhalten sich darüber, warum ihre Oma nie darüber gesprochen hat oder warum ihnen das nicht wichtig war." Vor kurzem kam die Enkelin eines verurteilten SS-Mannes zu einem Überlebendentreffen. Sie wollte sich mit der Geschichte ihrer eigenen Familie auseinandersetzen.

Auch in Flossenbürg steigen die Besucherzahlen stetig. "Jetzt, wo keine Zeitzeugen mehr an Schulen gehen könne, bekommen diese Orte eine weitere Bedeutung: Sie bieten die erhoffte Eins-zu-Eins-Begegnung mit der Geschichte an", so Skriebeleit. Erfolgreich ist auch das Museumscafé, in dem Menschen mit Behinderung arbeiten. "Die Menschen aus Flossenbürg sind regelmäßig dort. Es ist ein Open-Space geworden, da passiert viel." Das Café wirkt sich auch auf die Arbeit der Gedenkstätte aus: Ein Schwerpunkt im kommenden Jahr wird das Thema "Behinderte im Nationalsozialismus" sein.

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