Süddeutsche Zeitung

Holocaust in der Ukraine:Wie Buczacz zu einer "Stadt der Toten" wurde

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Der israelische Historiker Omer Bartov zeichnet akribisch nach, wie der NS-Rassenwahn über eine ostgalizische Stadt kam.

Rezension von René Schlott

Niemand auf dem Bild lächelt. Frauen, Männer und Kinder, alle schauen sie mit ernsten Gesichtern in die Kamera. Die Menschen umringen einen schräg liegenden Steinquader, auf dessen Mitte ein Davidstern eingemeißelt ist. An der Seite des Steins, der fast wie ein Grab erscheint, ist die Jahreszahl 1943 erkennbar.

Aufgenommen ist das Foto jedoch zwei Jahre später, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Es zeigt die überlebenden jüdischen Einwohner der Kleinstadt Buczacz bei der Errichtung eines provisorischen Mahnmals auf dem Fedor-Hügel. Auf der Anhöhe hatten die deutschen Besatzer und ihre einheimischen Helfershelfer Tausende vom nationalsozialistischen Rassenwahn als Juden definierte Menschen erschossen.

Die Fotografie ist das Titelbild einer Biografie der Stadt Buczacz, die der israelische Historiker Omer Bartov verfasst hat, der als Professor für deutsche und europäische Geschichte in den USA lehrt. Seine Geschichte Buczacz', das heute zur Ukraine gehört und gut 500 Kilometer südwestlich von Kiew liegt, hat ihren Ursprung in einer Küche in Tel Aviv im Jahr 1995.

Drei Jahre vor ihrem Tod bat der mit einem Aufnahmegerät ausgestattete Bartov seine sechs Jahrzehnte zuvor nach Palästina ausgewanderte Mutter, ihm von ihrer Kindheit in Buczacz zu erzählen.

Erzählt wird, was die Zeitgenossen erlebt haben

Denn "Geschichte ist in gewissem Sinn immer auch Familiengeschichte", meint Bartov, und so begann eine mehr als zwei Jahrzehnte währende Spurensuche, die den Autor auf drei Kontinente, in neun Länder mit ebenso vielen Sprachen und in unzählige Archive, Bibliotheken und Forschungseinrichtungen führte.

Wie sein Lehrer Saul Friedländer erzählt Bartov in einer "integrierten Geschichte" vor allem mit den Worten derer, "die sie erlebt" und in Tagebüchern, Augenzeugenberichten, Gerichtsaussagen, Aufzeichnungen und Memoiren festgehalten haben. "Ich errichte eine Stadt", zitiert der Autor in seiner Danksagung den berühmtesten Sohn der Stadt, den Schriftsteller Samuel Joseph Agnon, der 1966 gemeinsam mit Nelly Sachs den Literaturnobelpreis erhielt, "eine Stadt der Toten".

Das im Jahr 1260 zum ersten Mal urkundlich erwähnte Buczacz (deutsch: Butschatsch) war eine Stadt von mindestens fünf Sprachen - Jiddisch, Polnisch, Ukrainisch, Russisch und Deutsch, die im Laufe der Jahrhunderte immer wieder ihre Herrschaft wechselte.

Der Name des von dem Fluss Strypa geteilten, malerisch inmitten grüner Hügel gelegenen Ortes, leitete sich wahrscheinlich von den umliegenden Buchenwäldern ab. Im 16. Jahrhundert bemühten sich die polnischen Eroberer der Stadt um die Ansiedlung von Juden, die beim Aufbau von Produktion und Handel helfen sollten.

Zwischen der alteingesessenen Bevölkerung und den jüdischen Neueinwohnern der Region kam es zu Spannungen, die 1648 in einem Bauern- und Kosakenaufstand kulminierten, in dessen Verlauf es zu zahlreichen antijüdischen Pogromen kam.

Wenige Jahrzehnte später wurde die Stadt Teil des Osmanischen Reichs. Als die Juden nach dem Ende der Türkenkriege nach Buczacz zurückkehrten, fanden sie alle ihre Wohnungen und Gebetshäuser zerstört vor.

Auch Simon Wiesenthal stammte aus der Kleinstadt

Aus einem Dorf in der Nähe von Buczacz stammt die Mutter von Raul Hilberg, des später weltberühmten Holocaustforschers. Hilberg erinnert sich, dass seine Mutter den Vater im Streit manchmal als "Grafen Potocki" verhöhnte.

Eine Anspielung auf einen polnischen Stadtherrn, der den jüdischen Einwohnern von Buczacz nach dem Abzug der Osmanen am Ende des 17. Jahrhunderts Privilegien gewährte. Gut siebzig Jahre später wurde die Stadt Teil des Habsburgerreiches, dem sie bis zu dessen Zerfall angehören sollte. 1899 ließen die österreichischen Landesherren ein Gymnasium in Buczacz errichten, an dem der Anteil der jüdischen Schüler in den folgenden Jahren von einem Fünftel (1900) auf ein Drittel (1914) wuchs.

Zu den berühmtesten Abgängern der Oberschule gehörten der spätere Historiker Emanuel Ringelblum, der im Warschauer Ghetto ein Untergrundarchiv aufbaute, und der Holocaustüberlebende Simon Wiesenthal, der in der Nachkriegszeit zahlreiche NS-Verbrecher ausfindig machen konnte.

Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs stellten die jüdischen Einwohner mit 10 000 Menschen die Hälfte der Stadtbevölkerung und machten damit neben den Polen mit 30 Prozent und den Ukrainern mit 20 Prozent den größten Bevölkerungsanteil aus.

Das Oberhaupt der Stadt war meist ein jüdischer Bürger. Bei den Wahlen 1928 erzielten die galizischen Zionisten sogar zwei Drittel der Wählerstimmen. Doch in der unruhigen Zwischenkriegszeit geriet die jüdische Bevölkerung zwischen die miteinander verfeindeten Polen und Ukrainer, denen sie oft als Unterstützer der jeweils anderen Seite galten.

Weiße Armbinden mit blauem Davidstern

Es kam zu gewaltsamen Konflikten und wachsenden Spannungen zwischen den ethnischen Gruppen, die sich auch unmittelbar nach der deutschen Besetzung der Stadt im Juli 1941 entluden. Ein Augenzeuge berichtete, die Ukrainer seien schon bald "in unsere Häuser eingefallen, haben unsere Geschäfte zerstört und alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war".

Kurze Zeit darauf wurden die jüdischen Einwohner von den Deutschen gezwungen, weiße Armbinden mit einem blauen Davidstern zu tragen, eine Million Rubel zu zahlen sowie einen Judenrat und einen Ordnungsdienst einzurichten.

Wenige Wochen nach dem Einmarsch der Deutschen wurden Ende August 1941 bei einem Massaker 350 jüdische Männer auf dem Fedor-Hügel ermordet. Die Mordaktionen blieben nicht unbemerkt: Die Frau des deutschen Landkommissars von Buczacz, Richard Lissberg, berichtete später, dass das Leitungswasser nach einem der Massaker "komisch gerochen und ausgesehen habe", weil es "von dem Massengrab auf dem Berg" verdorben worden war, sodass die Stadtbevölkerung "in den nächsten Tagen nur noch Sprudelwasser verwenden" durfte.

In den folgenden Monaten konzentrierten die Besatzer die jüdischen Bewohner der umliegenden Ortschaften in Buczacz, um sie von dort aus in das Vernichtungslager Belzec zu deportieren. Wer nicht transportfähig ist, wird an Ort und Stelle umgebracht.

Im Februar und im April 1943 wurden erneut Tausende Menschen auf dem Fedor erschossen, mehrere Hundert starben gewaltsam in den Straßen, bevor die Deutschen Buczacz im Mai 1943 als "judenfrei" deklarierten. Als die Rote Armee die Stadt im März 1944 einnahm, hatten etwa 800 versteckte Juden überlebt.

Als den Deutschen wenige Wochen später die Rückeroberung von Buczacz gelang, starben die meisten von ihnen. Am 21. Juli 1944 wurde die Stadt endgültig befreit. Nicht einmal einhundert Juden hatten in der Region überlebt.

Der Holocaust verlief nicht anonym

Bartov hat der Stadt Buczacz und ihrer jahrhundertealten jüdischen Gemeinde mit seinem Buch in der Tat ein Schriftdenkmal gesetzt - ein aus Fotografien, Zeitzeugnissen, Archivquellen und Fußnoten errichtetes Mahnzeichen, das so eindrucksvoll wie beklemmend an eine von den Deutschen innerhalb weniger Monate fast vollständig ausgelöschte einst lebendige Gemeinschaft erinnert.

Am Beispiel der trinationalen Kleinstadt zeigt Bartov, dass der Holocaust kein anonymes Mordgeschehen war, sondern dass sich der Genozid auch in einer "intimen Form" zwischen Nachbarn, Kollegen, Freunden abgespielt hat, die von einem auf den anderen Tag zu Helfern, Verrätern, Nutznießern, Rettern oder Mördern werden konnten.

Bei der Lektüre der von Bartov festgehaltenen Gewaltgeschichte der Stadt, die sich insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nicht nur im Zweiten Weltkrieg, sondern schon während des Ersten Weltkriegs und im anschließenden polnisch-ukrainischen Krieg, manifestierte, kommt dem Lesenden unwillkürlich immer wieder das Schlagwort der "Bloodlands" in den Sinn, jene Bezeichnung, mit der der Historiker Timothy Snyder vor einem Jahrzehnt Ost- und Südeuropa als Raum besonders verdichteter Massengewalt identifizierte.

Das Buch beschließt ein Kapitel zur Gegenwart von Buczacz, das der Autor mit Fotografien seiner Reisen in die Stadt in den Jahren 2003 und 2016 bebildert hat. In dem "heruntergekommenen postsowjetischen Provinznest - arm, verfallen und depressiv", so Bartov, mit seinen ungefähr 12 500 Einwohnern, gibt es kaum noch Spuren jüdischen Lebens. 2005 hat die letzte Jüdin die Stadt verlassen.

Wenig erinnert heute an die deutschen Verbrechen. Bartov hat sich auf die Suche nach dem 1945 errichteten Mahnmal für die ermordeten Juden der Stadt begeben und es schließlich gefunden: "Der Gedenkstein auf dem Fedor ist von dichtem Wald umgeben und kaum zugänglich."

René Schlott ist Historiker und Publizist in Berlin. 2016 hat er die Essaysammlung "Anatomie des Holocaust" mit Texten von Raul Hilberg im S.-Fischer-Verlag herausgegeben - zusammen mit dem langjährigen Verlagslektor Walter Pehle. Dem Andenken an den kürzlich verstorbenen Pehle, der ein Leben lang gegen das Vergessen gekämpft hat, ist diese Rezension gewidmet.

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SZ vom 06.04.2021
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