Holocaust-Überlebender Heinz Kounio:"Deutsch hat mir in Auschwitz das Leben gerettet"

Heinz Kunio Auschwitz Thessaloniki Überlebender Holocaust

Heinz Kounio während des Gesprächs in seiner Wohnung in Thessaloniki

(Foto: Olilver Das Gupta)

Eine Woche ist der Grieche im Güterwaggon unterwegs von seiner Heimatstadt Thessaloniki nach Auschwitz. Mit viel Glück überlebt Kounio das Vernichtungslager - und ist bei Kriegsende abgemagert auf 35 Kilogramm.

Interview von Oliver Das Gupta, Thessaloniki

Heinz Kounio kam 1927 in Karlsbad (tschechisch: Karlovy Vary) zur Welt. Seine böhmische Familie mütterlicherseits war jüdisch und zählte sich zum deutschen Kulturkreis. Sein Vater war Nachkomme spanischer Juden, die nach der christlichen Eroberung der bis dahin unter muslimischer Herrschaft befindlichen Iberischen Halbinsel vor 500 Jahren nach Thessaloniki geflohen waren.

Griechenlands zweitgrößte Stadt prosperierte und hatte bis Anfang des 20. Jahrhunderts eine jüdische Bevölkerungsmehrheit. Nachdem 1941 Hitler-Deutschland in Griechenland einmarschiert war, wurde die jüdische Gemeinde "Salonikas" fast vollständig in die Vernichtungslager im besetzten Polen deportiert: mehr als 48 000 Menschen, darunter auch die Familie Kounio. Weniger als 2000 von ihnen überlebten den Massenmord.

Heinz Kounio berichtet als einer der letzten Zeitzeugen von der Vernichtung der Juden von Thessaloniki. Das folgende Gespräch findet in seiner Wohnung statt, von der man die Bucht von Thessaloniki überblicken kann bis zu den Gipfeln des Olymps.

SZ: Mister Kounio ...

Heinz Kounio: Lassen Sie uns gerne deutsch sprechen!

Vielen Überlebenden der Schoah ist die deutsche Sprache ein Graus.

Das ist bei mir anders. Deutsch ist für mich nicht negativ, Deutsch ist meine Muttersprache! Meine Mutter kam aus Böhmen, sie gehörte zum deutschen Kulturkreis. Deutsch hat mir in Auschwitz das Leben gerettet, aber das erzähle ich Ihnen später.

Vor 75 Jahren marschierten die Deutschen in Thessaloniki ein. Wann begannen die Repressalien gegen die jüdischen Griechen?

Erst mal war viele Monate alles relativ ruhig. Viele Wehrmachtssoldaten kamen in unser Fotogeschäft und kauften ein. Im Sommer 1942 aber wurden Tausende jüdische Männer zu schwerster Zwangsarbeit verpflichtet, sie mussten unter unmenschlichen Bedingungen Straßen und Brücken bauen. Die jüdische Gemeinde hat sie für viel Geld freigekauft.

Anfang 1943 kam der SS-Mann Alois Brunner nach Thessaloniki.

Mit ihm verschlimmerte sich unsere Situation drastisch. Wir mussten unser Haus verlassen und zusammen mit den anderen Juden in mehreren großen Ghettos leben. Wir waren eingesperrt in unserer eigenen Stadt.

Bei der Beraubung und Deportation half auch ein NS-Zivilbeamter ...

Merten!

Ja, Max Merten. Haben Sie ihn kennengelernt?

Aber ja. Er hat nicht weit von hier gewohnt, in meiner Erinnerung sehe ich Merten noch auf seiner Veranda tanzen. Das war ein gebildeter Mann, der sich zur Begrüßung tief verbeugte und charmant zu meiner Mutter war. Alles Theater von ihm! Merten war ein Lügner, ein Dieb und Verbrecher. Es gibt nach wie vor das Gerücht, er hätte das von den Juden geraubte Gold in einer Bucht versenkt, bevor er Griechenland 1944 verlassen hat.

Merten organisierte mit Brunner, dass Sie und fast 50 000 weitere Juden aus Thessaloniki in die Vernichtungslager nach Polen deportiert wurden. Was hat man Ihnen über das Ziel der Reise erzählt?

Man sagte uns, dass wir an einen Ort kommen, wo wir in Ruhe leben können. Die Bedürftigen kommen ins Sanatorium. Alle älteren Leute, alle Kinder, alle Kranke würden gut behandelt. "Haben Sie keine Angst", sagte Merten. Und wir naiven Juden von Saloniki haben ihm geglaubt. Alles war eine große, grausame Lüge. Meine Familie und ich gehörten zum ersten Transport. Unsere Zweifel sind schon am Tag der Abfahrt gewachsen.

Deutsche Panzer  in Saloniki, 1944

Thessaloniki 1944: Deutsche Panzer bei der Fahrt durch den Galerius-Bogen.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Was löste Ihre Zweifel aus?

Wir mussten in einen Güterzug steigen. In jeden Waggon mussten 80, 90 Leute. Das ging natürlich langsam, weil es nur einen kleinen Tritt zum Hochsteigen gab. Aber alles musste schnell gehen, die SS-Wachen haben mit Bajonetten gestochen und Gewehrkolben geschlagen. Ich höre noch wie sie "schnell, schnell!" brüllen. Man hat die Leute verrückt gemacht. Dann ging die Tür zu. Mit einem großen Bügelschloss wurden wir eingesperrt.

Wie lange blieb die Tür zu?

Drei Tage. Als sie wieder aufgemacht wurde, waren wir in Nordkroatien. Wir durften kurz raus an einen Fluss und Wasser trinken. Da war eine kleine Wiese, die ich als wunderschön in Erinnerung habe. Am nächsten Tag ging es nach Wien. Und dann direkt weiter nach Auschwitz-Birkenau. Nach etwa einer Woche Bahnfahrt kamen wir dort mitten in der Nacht an.

Wann wurde Ihnen klar, dass Auschwitz eine Mordfabrik war?

Sofort! Die Tür des Waggons ging auf und ich sah diese hohen Schlote der Krematorien. Manchmal schlugen die Flammen meterhoch aus den Schornsteinen. Man sah keine Sterne, weil der Rauch den Himmel dunkel machte. Für mich waren das die Seelen der ermordeten Menschen. Zwei- bis dreitausend Menschen pro Nacht gingen durch die Schornsteine. Diese hohen Schornsteine haben uns das Herz gebrochen.

"Und dann fuhr ein US-Panzer einfach das KZ-Tor um. Zack."

Holocaust-Überlebender Heinz Kounio: Karte, die für Heinz Kounio als Häftling in Auschwitz angelegt wurde.

Karte, die für Heinz Kounio als Häftling in Auschwitz angelegt wurde.

(Foto: Oliver Das Gupta)

Wie viele Menschen waren in Ihrem Transport?

2500. Wir wurden aus dem Waggon gejagt, die Wachen haben uns mit den Gewehrkolben geschlagen. Links war eine Kette aus SS-Leuten als Absperrung. Dann kam die Selektion: Etwa 300 wurden für Zwangsarbeiten gebraucht, den Rest schickte man in die Gaskammern. Ältere, Junge, Schwache, Verletzte und schwangere Frauen wurden sofort ermordet. Mein Vater hinkte und wäre als Invalide sicherlich vergast worden.

Warum schonte ihn die SS?

Weil die Nazis feststellten, dass unsere Familie die einzigen Griechen des ersten Transports waren, die Deutsch sprachen. All die anderen Juden aus Thessaloniki haben die Befehle der SS nicht verstanden. Die SS rief: Wer spricht hier Deutsch? Da haben wir uns gemeldet. Mein invalider Vater, meine Schwester und ich wären sofort ins Gas gekommen, wir waren ja noch halbe Kinder und konnten nicht schwer arbeiten. Deutsch hat uns das Leben gerettet.

Was waren Ihre Aufgaben?

Immer wenn neue Transporte aus Griechenland kamen, mussten wir an der Rampe für die SS Befehle übersetzen. So war ich bei allen 19 Transporten dabei, die aus Griechenland immer am frühen Morgen in Birkenau eingetroffen sind.

Die gesamte jüdische Gemeinde Thessalonikis ging an Ihnen vorbei.

Ja, alle sind an mir vorbeigegangen. Wissen Sie, es war schrecklich und es war so absurd. Ein SS-Arzt bestimmte, wer sterben muss - und dabei sind doch Ärzte da, um Leben zu retten. Und vor den Gaskammern liefen SS-Männer herum mit Rotkreuz-Armbinden.

Waren das SS-Sanitäter?

Ja, das waren SS-Sanitäter. Die haben auch Menschen getötet, die haben Gift gespritzt.

Wann haben Sie Auschwitz verlassen?

Im Januar 1945, mit dem letzten Evakuierungstransport, der kurz vor der Befreiung durch die Rote Armee abgefahren ist. Ich kam ins KZ Ebensee.

Das war ein relativ kleines Konzentrationslager in den österreichischen Alpen, in dem die Häftlinge als Sklavenarbeiter für die Rüstungsindustrie schuften mussten.

Dort ging es brutal zu. Es gab viel Prügel und großen Hunger. Viele Häftlinge sind gestorben. Auch ich war sehr krank und völlig abgemagert.

Holocaust-Überlebender Heinz Kounio nach der Befreiung im KZ Ebenso im Mai 1945

Dem Hungertod nahe und abgemagert bis auf die Knochen: In diesem Zustand befanden sich Häftlinge wie Heinz Kuonio bei der Befreiung im KZ Ebensee.

(Foto: Oliver Das Gupta)

Sie sind noch heute ein relativ großer Mann. Wie viel haben Sie bei der Befreiung gewogen?

35 Kilogramm. In der Lagersprache nannte man Menschen im Stadium vor dem Hungertod Muselmann. Ich konnte mich nicht mehr bewegen, ich konnte nicht mehr gehen. An dem Tag, an dem wir befreit wurden, schien die Sonne. Plötzlich hörte man Kettengeräusche. Und dann fuhr ein US-Panzer einfach das KZ-Tor um. Zack. Das Tor kippte um wie ein Streichholz. Was für ein wunderschöner Tag! Dann ging die Luke auf und aus dem Panzer guckte ein Kommandant heraus, der so dick war, dass ich mich wunderte, wie er in den Panzer passte. Er guckte nach links und nach rechts. Und dann rief er: "Ich bin amerikanischer Offizier. Meine Kameraden kommen, aber bis dahin müssen Sie ruhig bleiben." Nach einer Weile erschienen amerikanische Sanitäter, die uns versorgt haben. Bei einer späteren Befreiung wäre ich heute nicht hier.

Ihre Eltern und Ihre Schwester überlebten den Krieg, doch die meisten Juden Ihrer Heimat nicht: Von den 55 000 Gemeindemitgliedern vor dem Krieg gab es 1945 weniger als 2000.

Einige hatten sich in den Bergen oder bei christlichen Freunden versteckt. Ich war der jüngste, der aus den Konzentrationslagern zurückkam.

Wie viele KZ-Überlebende gibt es in Thessaloniki noch?

Acht, glaube ich. Unsere Gemeinde wurde fast vernichtet durch die Nazis. Damit endete eine Blütezeit, die vor mehr als 2000 Jahren begonnen hatte. Schon vor Christi Geburt gab es Juden in Saloniki. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren etwa zwei Drittel der Stadtbevölkerung jüdisch. Handel und Kultur blühten, die Religionen waren friedlich miteinander. Das ist alles zerstört worden durch die Deutschen. Das kommt nie wieder zurück.

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