Süddeutsche Zeitung

Holocaust-Überlebende:Wie ein Fehler das Mädchen Dagmar in Auschwitz rettete

Als die Tschechin Dagmar Lieblová das erste Mal von den Gaskammern hört, denkt sie, das könne nicht stimmen. Sie selbst entkommt dem Tod in Auschwitz-Birkenau wohl nur durch einen Zufall.

Von Oliver Das Gupta, Prag

Dagmar Lieblová überlebte das Grauen von Auschwitz-Birkenau. Der SZ schilderte die tschechische Germanistin wenige Monate vor ihrem Tod im März 2018, was sie damals gesehen und durchlitten hat. Ihre Erlebnisse hat sie auch in einem Buch niedergeschrieben (Dagmar Lieblová​: Jemand hat sich verschrieben - und so habe ich überlebt. Bergmann Verlag, Borgholzhausen 2016, ISBN 978-3-945283-21-9).

Eine perfide Lüge

Prag, am 16. Dezember 2017. Auf den Tag genau 74 Jahre nach ihrer Ankunft in der Hölle sitzt Dagmar Lieblová in ihrem Wohnzimmer und erzählt von einer perfiden Lüge. Draußen fällt das Winterdunkel über das Neubauviertel, in dem Lieblová lebt, ähnlich finster und kalt wie damals, im Dezember 1943.

Postkarten haben die Häftlinge des Konzentrationslagers Theresienstadt zu dieser Zeit erhalten, abgesendet von anderen Gefangenen, die zuvor auf "Transporte nach Osten" geschickt worden waren. Die Nachrichten zensierte die SS, niemand schrieb etwas Negatives. Aufmerksam registrieren die Theresienstädter Häftlinge den Absendeort: "Arbeitslager Birkenau". Dort, wo man arbeiten muss, wird es nicht so schlimm sein, sagen sich die Häftlinge. Mit dieser Hoffnung steigt Dagmar mit ihrer Familie in einen Viehwaggon, Mutter, Vater, Dagmar und ihre kleine Schwester Rita, damals elf Jahre alt.

Doch in Birkenau ist kein Arbeitslager, es werden keine Motoren für Hitlers Wehrmacht geschraubt und keine Uniformen geschneidert. Wer dort als Häftling hinkommt, der soll sterben. Birkenau, das ist Auschwitz II, das ist einer der Orte, an dem die Reichsführung die "Endlösung der Judenfrage" exekutieren will. Dort vernichtet die SS systematisch Menschen, die meisten durch Gas. Mehr als eine Million sterben, vielleicht sogar 1,5 Millionen - in München leben heute 1,4 Millionen Menschen.

Etwa neun von zehn Menschen, die in Auschwitz-Birkenau umkommen, sind dorthin geschafft worden, weil sie jüdisch waren. So wie das Mädchen Dagmar.

Die Familie Fantl

Dagmar Lieblová, geborene Fantlová, kommt am 19. Mai 1929 zur Welt. Sie wächst auf in Kutná Hora (zu Deutsch: Kuttenberg), etwa 70 Kilometer östlich von Prag. Vor dem Zweiten Weltkrieg gibt es eine jüdische Gemeinde in der Stadt, zu der auch die Fantls gehören. Besonders gläubig ist die Familie nicht, zweimal im Jahr geht Dagmar mit ihrem Großvater zur Synagoge: zum Neujahrsfest und zu Jom-Kippur, dem Versöhnungstag. Dagmar feiert als Kind auch Weihnachten, sie hält es heute noch so. In der Wohnung der alten Dame steht ein Adventskranz.

Als Kind kann Dagmar das R im Namen ihrer jüngeren Schwester Rita nicht aussprechen und nennt sie deshalb Ita. Die Schwestern verbringen eine schöne Kindheit, von der alte Fotos zeugen: zwei blonde Mädchen, die oft im Partnerlook vor der Kamera posieren. Der Vater, ein Arzt, engagiert sich ehrenamtlich, er ist Patriot und gleichzeitig sozialdemokratisch eingestellt. Als die Deutschen im März 1939 mit einem unblutigen Einmarsch die "Rest-Tschechei" dem Nazi-Imperium einverleiben, weint er. Schnell ändert sich viel: Doktor Fantl darf nur noch Juden behandeln, seine Kinder nicht mehr die allgemeine Schule besuchen. Die christliche Haushälterin Fanny darf bei den Fantls bleiben, weil sie schon über 50 ist.

Theresienstadt

Im Sommer 1942 werden die Fantls nach Theresienstadt deportiert, in jenes Vorzeige-KZ, das die Deutschen nördlich von Prag in einer Garnisonsanlage aus der Habsburger-Zeit installiert haben. Die Zeit dort war entbehrungsreich, sagt Lieblová, doch es sei "noch gut (gewesen) im Vergleich zu dem, was später passierte". Kinder, die damals aus dem besetzten Polen nach Theresienstadt kommen, wollen sich nicht duschen und schreien "Gas, Gas". Dagmar, damals ein junger Teenager, versteht die Kleinen nicht.

Heimlich werden die Kinder in Theresienstadt unterrichtet, das Kulturprogramm ist vielfältig. Dagmar hört die berühmte Pianistin Alice Herz-Sommer (1903-2014) die Etüden von Chopin auf einem Dachboden spielen, sie selbst singt im Chor in der Kinderoper "Brundibar". Dagmar nimmt nur an wenigen Aufführungen teil, denn wenige Wochen nach der Opernpremiere muss sie in den Zug nach Auschwitz steigen.

Auschwitz-Birkenau

Zusammengepfercht mit mehr als 50 anderen Menschen rollen die Fantls damals Richtung Osten, es ist kalt und dunkel. Bänke gibt es keine, nur zwei Eimer: einer mit Wasser, der andere für Fäkalien.

Zehn Tage vor Weihnachten im Jahr 1943 kommen sie mitten in der Nacht in Auschwitz an. Scheinwerfer, SS-Leute mit Hunden, kahlköpfige Häftlinge, die sie aus dem Waggon treiben, "überall schreckliches Gebrüll". Die Neuankömmlinge werden auf offenen Lastwagen von der Rampe ins Lager gekarrt. Dagmar bemerkt den Drahtverhau und die Wachtürme, sieht die Isolatoren für den Starkstrom, ihr wird klar, dass das hier kein Arbeitslager ist.

Die Gefangenen, die schon länger dort sind, sprechen von Dingen, die Dagmar nicht versteht. Hier käme niemand raus, raunen sie, außer durch die Schornsteine der weit sichtbaren Krematorien, aus denen die Flammen züngeln. Als Dagmar später das erste Mal von den Gaskammern hört, denkt sie zunächst, das würde nicht stimmen. "Ich konnte nicht glauben, dass Menschen so getötet werden wie Insekten."

Der rettende Fehler

In der ersten Nacht in Auschwitz-Birkenau muss Dagmar ihre Kleidung hergeben. Stattdessen bekommt sie eine dünne Häftlingskluft. "Das war nicht besonders gut", sagt Lieblová, "es war ja Dezember und der Winter in Auschwitz ist besonders kalt."

Zuvor wird Dagmar tätowiert. Mit einem spitzen Bleistift, zuvor in Farbe getaucht, sticht ihr ein Häftling eine fünfstellige Nummer in den Arm. Während sie tätowiert wird, notieren polnische Häftlingsfrauen andere Angaben, darunter auch das Alter. Ganz sicher ist sie nicht, aber Lieblová vermutet, dass ein Fehler bei dieser Prozedur später zu ihrer Rettung führen wird. Dagmar ist damals 15, doch auf dem Papier steht nun 19. Aber das weiß sie damals nicht. An eine absichtliche Fehleintragung glaubt Lieblová in der Rückschau nicht. "Zu der Zeit wusste man nicht, dass dieser Fehler ein halbes Jahr später eine positive Bedeutung bekommen würde."

Sechs Monate bleibt Dagmar im Vernichtungslager. Schon in Theresienstadt litt sie unter Gelbsucht, Encephalitis, es besteht der Verdacht auf Typhus, dazu kommen nun die Folgen der Mangelernährung. Dagmar denkt darüber nach, dass sie nie wieder im Gras liegen oder durch einen Wald streifen wird.

Nach und nach kommen aus ganz Europa neue Transporte im Lager an, es wird eng. Im Mai 1944 sollen die Arbeitsfähigen über 16 nach Deutschland geschafft werden, um für den "Endsieg" des Reichs zu schuften. Nun wirkt sich die falsche Altersangabe aus: Dagmar soll weggeschafft werden. Doch sie will von ihrer Familie nicht getrennt werden, der Vater versucht erfolglos beim Lagerschreiber zu intervenieren. Sie muss zur Selektion, kommt ins Frauenlager, es folgen weitere Selektionen, die sie besteht - diejenigen, die zu schwach wirken, werden ermordet.

Dagmar verlässt Auschwitz in einem Viehwaggon in Richtung Westen. Wenige Wochen später sterben ihre Eltern und ihre zwölfjährige Schwester Ita in der Gaskammer.

Wolfgang

Der Zug mit Dagmar hält im Mai 1944 in Hamburg. Mit dabei ist Dascha, mit der sie sich schon in Theresienstadt angefreundet hat. Von morgens bis abends müssen die Mädchen in Hamburg Trümmer der Bombenangriffe wegräumen, Schwerstarbeit. Die ständigen Bombenangriffe machen Dagmar zu schaffen. Im September muss sie am Stadtrand schuften, wo Notquartiere für Ausgebombte entstehen.

Dort gibt es Kontakte zu Einheimischen. Ein Junge namens Wolfgang, etwa elf Jahre, und sein Freund Jürgen haben die Zwangsarbeiterinnen oft besucht. Einmal lädt Wolfgangs Mutter die beiden Mädchen in ihr Haus ein. Dort sitzen sie in der Küche, es gibt Ersatzkaffee und eine Scheibe Brot mit Käse. Vor Weihnachten taucht Wolfgang mit einer Papiertüte mit Kohlrüben und Kartoffeln auf: "Das ist vom Weihnachtsmann", sagt er. Nach dem Krieg versucht Dagmar, Wolfgang und seine Mutter zu finden - ohne Erfolg.

Bergen-Belsen

Anfang 1945 hat Dagmar wundgescheuerte Füße, eine Blutvergiftung kann sie gerade noch abwenden. Sie muss weiterarbeiten. Im März wird sie mit anderen Frauen in die Nähe von Celle geschafft, ins Konzentrationslager Bergen-Belsen. Die Zustände sind grauenhaft: Überall liegen Leichen herum, Seuchen grassieren, Läuse und Flöhe peinigen die Häftlinge, es gibt kaum etwas zu essen, einmal findet Dagmar Glasscherben im Brot.

Die SS-Leute fliehen, am Ende bewachen ungarische Soldaten die Häftlinge. Als am 15. April die Briten die Überlebenden befreien, ist Dagmar zu schwach, um aufzustehen. "Ich bestand nur noch aus Haut und Knochen", sagt Lieblová.

Rückkehr in die Tschechoslowakei

Dagmar kehrt zurück in die Tschechoslowakei und erholt sich von einer Tuberkulose-Erkrankung. Manchmal träumt sie davon, dass ihre Eltern wieder zurückkommen mit Ita. Aber sie sind alle tot, insgesamt 30 Verwandte haben die Deutschen ermordet. Aber Fanny, die Haushälterin, ist noch da. Die stämmige Frau hat einige Fotos der Familie aufbewahrt, Lieblová bekommt ihr Elternhaus zurück und damit auch die eleganten dunklen Holzmöbel, die heute ihr Prager Wohnzimmer zieren. Sie lernt ihren Mann kennen, einen Mathematiker. Sie bekommt drei Kinder, die erste Tochter nennt sie nach ihrer Schwester Rita. Dagmar Lieblová studiert Germanistik, sie promoviert und lehrt an der Universität, geht ins Ausland.

Deutsche Sprache und Literatur seien für sie nie ein Problem gewesen, sagt sie, sie verbinde das nicht mit der Nazi-Zeit. Die totale Ablehnung der deutschen Kultur in der Tschechoslowakei der ersten Nachkriegsjahre nervt sie. "Man spielte keinen Bach, keinen Mozart und keinen Beethoven", sagt sie. "Dabei haben wir sogar Figaros Hochzeit in Theresienstadt aufgeführt!" Sie irritiert auch, wie ihr Vormund in Briefen Deutsche erwähnte. "Er hat das tschechische Wort für Deutsche - Němec - immer mit kleinem N geschrieben." In ihrem Haus in Kutná Hora nimmt Lieblová sogar eine deutsche Krankenschwester auf, die nicht vertrieben worden war.

Blick nach Berlin

Ein Telefonat am 28. Januar 2018, am Morgen nach der tschechischen Präsidentenwahl, deren Sieger der rabaukige Amtsinhaber Miloš Zeman ist. "Ich habe es erwartet", sagt Dagmar Lieblová, "auch wenn ich mir etwas anderes gewünscht hätte." Wenige Tage vorher hat eine Gedenkfeier in Theresienstadt stattgefunden, auch eine Delegation aus Sachsen war da und hörte dort eine Rede von Dagmar Lieblová.

Nun ist sie gespannt, wie die Gedenkstunde im Bundestag verläuft, wenn Anita Lasker-Wallfisch die Gedenkansprache hält, und wie sich die rechte "Alternative für Deutschland" verhält. Lieblová verfolgt genau, was im Nachbarland passiert, sie weiß auch, dass Björn Höcke eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad" fordert.

Gefährlich sei der aufflammende Nationalismus, sagt Lieblová, aber für spezifisch deutsch hält sie das Problem nicht. Sie verweist auf die Entwicklungen in Ungarn, in Polen und in Österreich. Europa werde in Frage gestellt, das stimme leider. "Aber ich bin optimistisch", sagt sie, "und ich glaube, dass die vernünftigen Menschen in Deutschland in der Mehrheit sind."

Schreckliche Gefühle

Eine von Dagmars Freundinnen, die ebenfalls Auschwitz überlebt hat, träumt von Birkenau. Davon, dass sie mit ihrer Enkelin vor der Gaskammer steht. Lieblová plagen solche Träume nicht.

Einmal kehrte sie nach Auschwitz zurück, 1994 war das. Lieblová dachte, sie würde schon klarkommen, sie fährt ja auch nach Theresienstadt oder Bergen-Belsen. Doch in Auschwitz war es anders. Man gehe doch ab und zu auf den Friedhof, sagt Lieblová, und Birkenau sei ja sozusagen der Friedhof fast aller ihrer Verwandten. "Aber dort gibt es etwas, das schreckliche Gefühle weckt." Sie will nie wieder nach Auschwitz fahren.

Nachtrag: Am 22. März 2018 ist Dagmar Lieblova nach kurzer schwerer Krankheit gestorben. Ihre Beerdigung fand unter großer Anteilnahme in Prag statt.

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