Holocaust:Steinmeier besucht den Wald des Todes

Holocaust: Ein weißrussischer Chor singt bei der Zeremonie zur Gedenkstätten-Eröffnung in Malyi Trostenec.

Ein weißrussischer Chor singt bei der Zeremonie zur Gedenkstätten-Eröffnung in Malyi Trostenec.

(Foto: AFP)

In Malyi Trostenec ermordeten die Nazis mindestens 60 000 Menschen. Bei der Eröffnung der Gedenkstätte spricht der Bundespräsident erstaunlich unverdruckst. Sein Besuch sagt viel über das deutsch-weißrussische Verhältnis aus.

Von Joachim Käppner, Malyi Trostenec

Die letzte Nachricht, die Kurt Marx von seinen Eltern erhielt, war ein Brief vom 19. Juli 1942. Der Vater schrieb ein paar Worte nur von der Sammelstelle für Kölns Juden in Deutz: "Wir stehen kurz vor der Abreise." Wohin die Reise führen würde, das wusste er nicht. Als das Rote Kreuz den Brief nach England übermittelte und Kurt Marx ihn las, waren seine Eltern bereits tot.

Am 20. Juli wurden sie per Bahn nach Minsk deportiert, dann in den Wald nach Malyi Trostenec gebracht und dort ermordet, in einem düsteren Waldstück. "Ich weiß nicht, wie sie gestorben sind", sagt Kurt Marx, heute 93 Jahre, die man ihm nicht ansieht. "Hat man sie gleich erschossen oder in einem Gaswagen ermordet? Ich weiß es nicht."

Er selber war 1939 noch als Kind nach Großbritannien in Sicherheit gebracht worden, die Eltern wollten folgen. Doch der Krieg vereitelte das, und der Sohn wuchs bei einer Arbeiterfamilie in Bedford auf, "das waren sehr gute Menschen", sagt er. Die Kölner Verwandtschaft fiel bis auf wenige Ausnahmen dem Holocaust zum Opfer, und viele Jahrzehnte lang hat er nicht gewusst, was mit seinen Eltern geschehen war. Jetzt wird ihrer und mindestens 60 000 weiterer Opfer aus dem Wald von Malyi Trostenec gedacht: Juden aus ganz Europa, Zivilisten aus Minsk, sowjetische Kriegsgefangene, Partisanen.

Es ist das erste Mal, dass ihrer gedacht wird. Der Tatort Malyi Trostenec ist in Deutschland gar nur Zeithistorikern bekannt. Zur Eröffnung des Gedenkortes bei der weißrussischen Hauptstadt Minsk ist Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gekommen, sein österreichischer Kollege Alexander Van der Bellen, Diplomaten, Fernsehteams aus vielen Ländern - ein ungewohnter Augenblick im isolierten Weißrussland, das mit eiserner Hand von Präsident Alexander Lukaschenko regiert wird.

Holocaust: Drei Staatsoberhäupter am Freitag in Malyi Trostenec, zwölf Kilometer südöstlich von Minsk: der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko und der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen.

Drei Staatsoberhäupter am Freitag in Malyi Trostenec, zwölf Kilometer südöstlich von Minsk: der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko und der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen.

(Foto: SERGEI GAPON/AFP)

Der führt seine Gäste nun unter der brennenden Sonne durch den neuen Gedenkort. Langsam schreiten Steinmeier, von der Bellen und Lukaschenko durch ein Spalier von Gardesoldaten, die noch stark an das sowjetische Militär erinnern, mit ihren ausladenden grünen Mützen und den aufgepflanzten Bajonetten.

Die Inszenierung mag für westliche Augen etwas pathetisch sein: die jungen Frauen in weißen Gewändern, die weiße Tauben fliegen lassen; die Armeekapelle und der Trauerchor, die Männer vom Geheimdienst mit dunklen Sonnenbrillen und Draht am Ohr. Und doch, es bleibt berührend, dass nun, nach so vielen Jahren, die Erinnerung an die Ermordeten endlich einen Platz gefunden hat. Die Delegationen und viele Besucher legen rote Rosen auf dem zentralen Denkmal ab oder stecken sie an die Bäume, an denen Tafeln an Ermordete erinnern.

Holocaust: Sie wurden hier ermordet, am Freitag erinnerten Papiertafeln an den Bäumen an sie.

Sie wurden hier ermordet, am Freitag erinnerten Papiertafeln an den Bäumen an sie.

Lukaschenko nennt die Juden zuerst: "Juden aus Berlin, Bremen, Wien, Dortmund, Prag und anderen europäischen Städten war es bestimmt, hier den Weg des Todes zu gehen." In Weißrussland ist eine solche Aussage durch den Herrscher noch immer eine Sensation: In sowjetischer Zeit und noch lange danach wurde die Erinnerung an den Mord an den Juden, auch und gerade die Massaker von Malyi Trostenez, allenfalls beiläufig behandelt. Das Los der Juden störte die offizielle Geschichtsbetrachtung, in deren Mittelpunkt der heldenhafte Sieg gegen den deutschen Faschismus stand.

Nur Massengräber voller Asche

Dieser Gedenkort "ist wegen der Opfer aus so vielen Staaten ein europäischer", das mache seine Bedeutung für Weißrussland aus, sagt Astrid Sahm, Geschäftsführerin des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerkes (IBB), die das Konzept mitgestaltet hat.

Der Grundstein für die Gedenkstätte wurde schon 2014 gelegt; für den jetzt fertigen Bau haben deutsche Spender, das Auswärtige Amt und die Deutsche Kriegsgräberfürsorge eine Million Euro gegeben. Ein solcher europäischer Gedenkort, sagt Steinmeier später, sei wichtig in einer Zeit, "in der sich immer mehr Staaten in eine nur noch nationale Erinnerungsgeschichte zurückziehen".

Die Eröffnung lässt sich auch als eine Geste Weißrusslands verstehen, das im Westen oft als letzte Diktatur Europas und bloßer Hinterhof des Kreml wahrgenommen wird. Das hat sich etwas geändert, seit Lukaschenko 2015 geschickt im Ukrainekonflikt vermittelte. Lukaschenko will sein Land langsam der EU öffnen, um nicht völlig von Russland abhängig zu sein. Er regt "einen breit angelegten internationalen Dialog", um die "neuen Dämonen der Intoleranz" zu besiegen.

Wer diese genau sind, bleibt offen. Steinmeier aber, dem die ausgestreckte Hand nach Russland (und damit auch an dessen Verbündeten Weißrussland) schon als Außenminister ein Anliegen war, griff diese Geste der Öffnung direkt auf, als er sagte: "Nach fast drei Jahrzehnten Unabhängigkeit ist es an der Zeit, dass Belarus in unserem Bewusstsein aus dem Schatten der Sowjetunion tritt." Der Westen müsse das Land endlich wahrnehmen als "Staat mit einer eigenen Geschichte, Gegenwart und Zukunft".

Der Weg mag weit sein, Weißrussland vollstreckt noch die Todesstrafe und unterdrückt die Opposition; Themen, die auch Steinmeier anspricht.

Die auch mit deutschem Geld finanzierte Gedenkstätte geht auf ein Konzept Leonid Lewins zurück, des früheren Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Belarus. Nichts Monumentales ist daran, sie beginnt mit dem "Platz des Lebens", wo die Opfer ankamen und vielleicht noch Hoffnung hegten, bis zu den nun nur angedeuteten Gruben, in denen die Deutschen ihre Opfer verscharrten, unter ihnen auch Kurt Marx' Eltern. "Mein Cousin, der Bergen-Belsen überlebte, hat mir nach dem Krieg berichtet, dass wohl niemand sonst überlebt hatte", sagt er. Aber dass die Eltern nach Malyi Trostenec verschleppt wurden und dort umkamen, erfuhr er erst vor wenigen Jahren, in der 2003 von Lewin gegründeten Minsker Geschichtswerkstatt.

Steinmeier spricht auch von jenen, welche die Verantwortung vor der Geschichte scheuen, "die sagen, sie werde abgegolten durch die verstrichene Zeit". Malyi Trostenec ist auch eine Erinnerung daran, welchen Weg Europa seit dem Grauen von damals gegangen ist: von einem Kontinent, zerrissen vom Furor des Hasses, zu einem Staatenbund des friedlichen Interessenausgleichs, so mühselig dieser auch sein mag. Der modischen Geringschätzung des Erreichten widerspricht auch Steinmeier, wenn er sagt: "Wenn wir uns auch fortan, ohne die Hilfe von Zeitzeugen, daran erinnern wollen, warum uns dieses auf Menschlichkeit gegründete Europa so wichtig ist, müssen wir seine Geschichte jeder Generation neu vermitteln."

Malyi Trostenec war ein Ort ohne Trost. Fast nichts blieb von ihm, weil die Mörder, als 1944 die Rote Armee die Wehrmacht vor sich her nach Westen trieb, alle Spuren beseitigten. Das war nicht schwer. Es gab hier keine Krematorien, kein festes Lager. Nur Massengräber voller Asche. Es blieben fast keine Zeugen, weil es aus dem Wald des Todes kein Entrinnen gab. Und ohne die Zeugen blieb kaum Erinnerung.

Steinmeier vermeidet jeden Anklang jener seltsam verdrucksten Sprache, die Repräsentanten der Bundesrepublik jahrzehntelang an derartigen Orten pflegten. Nicht "im deutschen Namen" haben die Täter Menschen hier ermordet, Deutsche haben das getan, wie der Bundespräsident sagt.

Kurt Marx ist zufrieden: "Er hat offen benannt, was hier geschah." Und für ihn selbst, den Zeitzeugen? "Für mich ist die Geschichte meiner Familie zu einem Abschluss gekommen." Seiner Eltern und all der anderen Opfer wird nun offiziell gedacht, endlich, nach so langer Zeit. "Ich habe mehr als 70 Jahre darauf gewartet."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: