Süddeutsche Zeitung

Holocaust:So mordete die Wehrmacht im "Rassekrieg" mit

  • Die Hamburger Historikerin Birthe Kundrus untersucht in einem Buch, inwiefern die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg am Völkermord an den Juden beteiligt war.
  • Die Autorin lässt verschiedene Zeitgenossen zu Wort kommen: Opfer, Zuschauer und Täter.
  • Kundrus' Befund lautet: Die Wehrmacht fungierte als "Teil der Vernichtungspolitik" des Hitler-Regimes.

Rezension von René Schlott

Zwei Männer, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, blicken in die Kamera. Einer mit Schirmmütze, Schal und verschmutzter Jacke bekleidet, auf deren rechter Seite ein Stern aufgenäht ist, der ihn als Juden brandmarkt.

Schräg hinter ihm in einiger Entfernung ein anderer im weißen Hemd und Krawatte, die Haare streng zur Seite gescheitelt: Hans Biebow, Leiter der Verwaltung des Ghettos Litzmannstadt, wie die deutschen Besatzer das polnische Łódź nannten.

Das berühmte Farbfoto aus dem Łódźer Ghetto ist als Titelbild des neuen Holocaustbuches der Hamburger Historikerin Birthe Kundrus gut gewählt. Der unbekannte Ghettobewohner und der deutsche Verwaltungschef schauen die Leserin oder den Leser direkt an, die ohnehin irritiert sind, weil das moderne Bildgedächtnis alle Ereignisse vor 1945 einer längst vergangenen Zeit zuordnet, dem Zeitalter der Schwarz-Weiß-Aufnahmen.

Blick ins Buch

Das Farbfoto aber führt buchstäblich vor Augen, dass das Thema zu unserer Gegenwart gehört und weiter jeden Einzelnen angeht, auch und gerade in Zeiten, in denen der Geschichtsrevisionismus (wieder) in Mode kommt.

Andererseits führt das Titelbild aber auch direkt auf das Konzept des Bandes hin, den als roter Faden die Wechselwirkung von Kriegsverlauf und "kumulativer Radikalisierung" (Hans Mommsen) beim Judenmord durchzieht.

Im Ghetto Łódź hatte der "Judenälteste" Chaim Rumkowski versucht, das Überleben der verfolgten Juden durch unentbehrliche Arbeitsdienste, etwa für die Wehrmacht, zumindest so lange zu sichern, bis das Ghetto durch die schnell vorrückende Rote Armee befreit werden würde. Doch er rechnete nicht mit der Entschlossenheit der Deutschen, gerade angesichts der drohenden militärischen Niederlage den Judenmord voranzutreiben und sogar auszuweiten.

Im August 1944 wurde das Łódźer Ghetto liquidiert und seine Insassen, unter ihnen auch Rumkowski, nach Auschwitz deportiert.

In den Jahren zuvor hatten gerade die "erfolgreichen Feldzüge" der Wehrmacht im Westen wie im Osten, im Norden wie im Süden Europas, Millionen von der nationalsozialistischen Ideologie als Juden definierte Menschen unter die Herrschaft der Deutschen gebracht und aus deren Sicht eine physische "Endlösung der Judenfrage" überhaupt notwendig gemacht.

Auch wenn alle zivilisatorischen Schranken erst mit dem "Unternehmen Barbarossa" fielen, als der Krieg zum "rassenideologischen Vernichtungskrieg" eskalierte, so Kundrus, setzte die Entrechtung und Vertreibung der Juden unter deutscher Besatzung bereits unmittelbar nach Beginn des Krieges in Polen im September 1939 ein.

"Integrierte Holocaustgeschichte"

Die Wehrmacht fungierte dabei als "Teil der Vernichtungspolitik", wie Kundrus unterstreicht. Anfangs noch in einer Beobachterrolle schufen die deutschen Soldaten mit ihren Eroberungen die Voraussetzungen für die Judenverfolgung, später ließen sich viele "aktiv" in das Mordgeschehen einbinden.

Dem Konzept einer "integrierten Holocaustgeschichte" (Saul Friedländer) verpflichtet, versucht Kundrus, den Leser nicht mit Emotionen zu überwältigen, sondern lässt bekannte (unter anderem Victor Klemperer) und unbekannte Zeitgenossen in ihren überlieferten Selbstzeugnissen zu Wort kommen, und zwar aus allen am Völkermord beteiligten Gruppen: Täter, Opfer und Zuschauer.

Sie knüpft in ihrer Darstellung an die aktuellen Forschungen zur Massengewalt und zu extrem gewalttätigen Gesellschaften nicht nur im Reich, sondern auch in den von der Wehrmacht besetzten Ländern Europas an und zeigt dabei die ganze Bandbreite menschlicher Verhaltensweisen angesichts des Judenmordes auf, von der Kollaboration bis zum Widerstand, von der Auslieferung bis zur Rettung, von der indifferenten Gleichgültigkeit zur aktiven Solidarisierung mit den verfolgten und entrechteten Nachbarn.

Verglichen mit anderen in jüngster Zeit erschienenen Überblickswerken ist Kundrus mit 300 Textseiten ein schlanker und leserfreundlicher Band gelungen, was angesichts des immensen Themas und der für einen Einzelnen nicht mehr zu überblickenden einschlägigen Forschungsliteratur allein eine bewundernswerte Syntheseleistung ist.

Ob das Einstreuen von Zitaten aus Tagebüchern aber ausreicht, um eine gut geschriebene Ereignisgeschichte in eine "Erfahrungsgeschichte der deutschen Gesellschaft im Dritten Reich" zu transformieren, wie es der Klappentext der ambitionierten und viel gelobten siebenteiligen Buchreihe verspricht, in der dieser Band erscheint, lässt sich nur mit einiger methodischer Skepsis beantworten.

René Schlott ist Historiker am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam.

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SZ vom 06.08.2018/odg
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