Polen:Holocaust-Forscher sollen sich öffentlich entschuldigen

Urteil im Verleumdungs-Prozess gegen zwei Holocaust-Forscher

Warschauer Ghetto 1943, SS-Soldaten führen polnische Juden zur Deportation ab: An den Taten der deutschen Besetzer in Polen gibt es keine Zweifel. Doch es gibt auch Berichte, nach denen Polen an Morden an Juden beteiligt waren.

(Foto: ap/dpa)

Ein Warschauer Gericht verurteilt zwei Historiker, die über die Rolle von Polen an der Ermordung von Juden im Zweiten Weltkrieg forschen. Der Prozess passt in die Linie der Regierung.

Von Florian Hassel, Warschau

Sie müssen sich entschuldigen, die beiden Holocaust-Forscher Jan Grabowski und Barbara Engelking, so urteilte das Bezirksgericht in Warschau, und zwar bei der 81 Jahre alten Nichte eines verstorbenen polnischen Dorfvorstehers. Der hatte während der deutschen Besetzung im Zweiten Weltkrieg Juden gerettet - möglicherweise aber auch an die Deutschen verraten.

Den Prozess hat in wesentlichen Teilen eine regierungsnahe Stiftung namens "Redoute für den guten Namen" betrieben. Unter anderem geht sie vor gegen angeblich falsche Forschungen zu polnischer Beteiligung an der Ermordung der Juden im Zweiten Weltkrieg. Beobachter werten den Prozess als Versuch, Forschung zu verhindern, die das von der Regierung gepflegte Bild Polens als ausschließlichem Opfer infrage stellt. Grabowski und Engelking kündigten Berufung an gegen das Urteil vom Dienstag.

Barbara Engelking

Verurteilt wegen drei Sätzen: Barbara Engelking und ihr Kollege sollen sich für ihre Forschungsergebnisse entschuldigen.

(Foto: Jacek Bednarczyk/dpa)

Im von ihnen besetzten Polen mordeten Deutsche nicht nur in den Konzentrationslagern. Vor dem Abtransport in deutsche Gaskammern konnten 250 000 bis 300 000 Juden zunächst fliehen. Sie versteckten sich in Städten, Dörfern und Wäldern. Und die Deutschen eröffneten auf sie die "Judenjagd". An der beteiligten sich nicht nur SS-Mordkommandos, Gestapo, Polizisten und Eisenbahner, sondern auch polnische Hilfspolizisten, Feuerwehrmänner, Partisanen - und Dorfbewohner.

Tausende Polen retteten Verfolgten das Leben. Andere verrieten sie

Tausende Polen versteckten damals Juden und retteten sie vor dem Tod. Aber weitaus mehr Polen waren es, die versteckte Juden verrieten, oft samt deren polnischen Rettern. Sie informierten die polnische Hilfspolizei oder die Deutschen, Antisemitismus, Angst oder Habgier nach Geld, Gut oder Land der Juden brachten sie dazu.

Der Historiker Jan Grabowski, der in Kanada an der Universität Ottawa lehrt, beschrieb schon 2013 diese "Judenjagd" im Kreis Dąbrowa Tarnowa östlich von Krakau. Sein Fazit: Von mindestens 200 000 außerhalb der Konzentrationslager ermordeten Juden wurden die weitaus meisten unter polnischer Mithilfe oder direkt von Polen umgebracht. Und im Frühjahr 2018 legten Grabowski und Barbara Engelking vom Warschauer Institut für Holocaust-Forschung mit anderen Kollegen auf 1600 Seiten den Forschungsband "Dalej Jest Noc" ("Und immer noch ist Nacht") vor. Darin untersuchen sie das Geschehen in neun weiteren polnischen Regionen.

Grabowski, one of editors of 'Night Without End: The Fate of Jews in Selected Counties of Occupied Poland', poses after interview with Reuters in Warsaw

Jan Grabowski wurde 1962 als Sohn eines jüdischen Holocaust-Überlebenden in Warschau geboren. Mit seinem Buch "Judenjagd" gewann er 2014 den Yad-Vashem-Preis. Er lehrt Geschichte an der Universität Ottawa in Kanada.

(Foto: Kacper Pempel/Reuters)

Das Urteil nun behandelt, was im Dorf Malinowo im heutigen Ostpolen passierte. Da rettete Dorfvorsteher Edward Malinowski Anfang November 1942 die Jüdin Estera Siemiatycka vor den Deutschen - einem Zeitzeugeninterview von 1996 zufolge erleichterte er dabei die Frau aber auch um die Hälfte ihres Geldes und gute Kleidung. Ende 1943 soll der Dorfvorsteher dann aber eine "Judenjagd" organisiert und schließlich 18 Juden, die sich versteckt hatten, den Deutschen übergeben haben. Diese erschossen die Juden sofort. So schilderten es jedenfalls Dorfbewohner nach Kriegsende in Anzeigen und Aussagen bei Polizei und Staatsanwalt.

Doch ehe es 1949/50 zum Prozess kam, wurden Zeugen unter Druck gesetzt oder verprügelt. Belastungszeugen erschienen nicht bei Gericht oder änderten ihre Aussagen. Drei Juden, unter ihnen Estera Siemiatycka, sagten zugunsten des Dorfvorstehers Malinowski aus. Er wurde freigesprochen. Im Forschungsband "Dalej Jest Noc" widmete Historikerin Engelking Siemiatycka und Malinowski ganze drei Sätze.

Die regierungsnahe Stiftung "Redoute für den guten Namen" indes nutzte den Nachkriegsfreispruch des Dorfvorstehers, um diesen zum "polnischen Helden" zu stilisieren. In Malinowo kontaktierte sie die 81-jährige Filomena Leszczyńska, Nichte des inzwischen verstorbenen Dorfvorstehers.

Selbst wenn die Forscher die Berufung gewinnen sollten - das Ziel der Kläger ist erreicht

Die Stiftung übernahm alle Kosten der Klage Leszczyńskas gegen die Historiker Grabowski und Engelking. Sie klagte nicht nur wegen Rufschädigung, sondern auch wegen Schädigung eines "Rechts auf Identität und nationalen Stolz", des "Rechts auf das Andenken judenrettender Polen" und des "Rechts auf Nicht-Verfälschung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs".

Diese letzten Anträge lehnte Richterin Ewa Jończyk vom Warschauer Bezirksgericht zunächst ab. Aber sie urteilte, dass Engelking und Grabowski sich in einem Brief und einer öffentlichen Erklärung auf der Homepage des Instituts für Holocaust-Forschung bei Leszczyńska entschuldigen sollen. Diese habe ein Recht auf einen "Kult des Angedenkens an einen Verstorbenen".

Selbst wenn Grabowski und Engelking in der Berufung gewinnen sollten, Dariusz Stoła, Ex-Direktor des Warschauer Museums für die Geschichte der polnischen Juden, sieht das "eigentliche Ziel" der Kläger erreicht: "Historiker einzuschüchtern, sie um Zeit und Geld zu bringen und andere davon abzuhalten, dunkle Seiten unserer Geschichte zu erforschen".

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