Der Vernichtungsapparat der Nazis war viel größer als heute bekannt. Zu diesem Ergebnis kommt das Washingtoner Holocaust Memorial Museum in einer Studie: 42.500 Lager gab es demnach im Einflussbereich der Nazis, mehr als bislang angenommen.
Hartmut Berghoff haben diese Ergebnisse genauso überrascht wie die Forscher selbst. Der 52-Jährige leitet das Deutsche Historische Institut in Washington D.C. Immer wieder widmet sich der Professor Themen des Nationalsozialismus. Momentan forscht er zu der Konsumgeschichte der braunen Diktatur. Berghoff schrieb schon im Jahr 2000 über das "lokale Erinnern" historischer Begebenheiten (Fritz K. Ein deutsches Leben im 20. Jahrhundert. DVA).
SZ: Herr Berghoff, Ihre Kollegen vom United States Holocaust Memorial Museum kamen auf 42.500 deutsche Gefangenenlager - eine Zahl, die allein der Forschung bislang Bekannte übersteigt. Hat all die Jahrzehnte vorher niemand nachgezählt?
Hartmut Berghoff: Es gibt inzwischen mehr Quellen, wie das Archiv des Internationalen Suchdienstes des Roten Kreuzes in Bad Arolsen, dessen Bestände erst seit 2008 eingehend ausgewertet werden. Dazu kommt noch die Art, wie man zählt. In diesem Fall greift eine sehr weite Definition von Lager.
Lager bedeutet in diesem Fall nicht Konzentrationslager.
Richtig. Von den KZs gab es etwa 980. Für die Enzyklopädie haben die Kollegen auch andere Lager mit einbezogen: Außenkommandos, Erziehungslager, Zwangsarbeitslager, Zigeunerlager, Durchgangslager und so weiter. Teilweise waren diese Lager relativ klein und bestanden nicht sehr lange. Manchmal existierten sie nur wenige Monate.
Inwiefern muss die Geschichte des Holocausts nun umgeschrieben werden?
Die große Anzahl der Lager hat uns alle überrascht, aber das Grauen der NS-Zeit wird dadurch nicht größer. Die Zahl der Opfer ändert sich ja nicht mit der Frage, ob sie in einem großen Lager oder mehreren kleinen Lagern gelitten haben. Was sich aber verändert hat, ist ein anderer Aspekt: Das Netz des braunen Terrors war viel enger geflochten, als wir bislang wussten. Die Deutschen implementierten ihr Lagersystem flächendeckend. Das ist ein wichtiger Befund.
Ist die nach dem Krieg oft zur Schau gestellte Unwissenheit der Deutschen damit entlarvt?
1944 wird es in Deutschland kaum einen Ort gegeben haben, wo es nicht irgendeine Art von Lager gab. Das bedeutet aber nicht, dass alle Deutschen von der systematischen Vernichtung von Menschen in Auschwitz wussten. Übersehen werden konnten die NS-Opfer vor Ort aber nicht. Die Häftlinge gehörten zum deutschen Alltag.
Was bekam die Zivilbevölkerung zu Gesicht?
Ausgemergelte Menschen in Häftlingskleidung, die Zwangsarbeit leisten mussten. In den zerbombten Städten hatten sie vor den Augen der Zivilbevölkerung den Schutt wegzuräumen. Die Aufpasser haben offen geprügelt und auch getötet. Die Deutschen konnten sehen: Hier passieren schreckliche Dinge.
Wie reagierte die Bevölkerung auf solche Szenen?
Unterschiedlich. Manche steckten den ausgehungerten Häftlingen Nahrungsmittel zu. Andere verhielten sich wie der verlängerte Arm der Bewacher und halfen dabei, Flüchtige einzufangen oder umzubringen. Das interessante dabei ist: All das passierte nicht abgegrenzt, weit weg, irgendwo in Osteuropa. All das passierte mittendrin.
Das Holocaust Memorial Museum hat die Studie noch nicht abgeschlossen. Erwarten Sie, dass die Zahl der Nazi-Lager noch weiter steigt?
Ich gehe davon aus, dass künftig noch weitere Orte bekannt werden. Je mehr die Wissenschaft noch bislang unzugängliche Quellen auswerten kann, desto mehr dürfte publik werden.
Wo könnten sich denn noch neue Quellen auftun?
In manchen osteuropäischen Ländern und in Staaten der ehemaligen Sowjetunion liegen noch nicht alle Sachen auf dem Tisch. Teilweise gibt es auch ein politisches Interesse, die Vergangenheit nicht aufzuarbeiten.
Wie meinen Sie das?
Oft konnten die Deutschen diese Verbrechen nur verüben, weil die einheimische Bevölkerung dabei geholfen hat. Deshalb gibt es immer noch Lücken in der Erforschung. Damit werden immer wieder schreckliche Details bekannt, die wir bislang nicht kannten.
Ist die Studie des Holocaust Memorial Museum wissenschaftlich solide?
Die Kollegen haben sehr gründlich und akribisch gearbeitet. Für uns Historiker ist der Wert der Enzyklopädie groß, aber vielleicht noch wichtiger ist sie für die Nachfahren der NS-Opfer. Viele können endlich verorten, wo ihre Verwandten gefangen waren, wo sie litten und wo sie ermordet wurden.
In manchen osteuropäischen EU-Ländern wird die Rolle der faschistischen Regime schöngeredet, in Ungarn gibt es antisemitische Tendenzen, in Rumänien leugnet ein Minister den Holocaust. Kann die Geschichtsforschung gegen ein solches Klima noch etwas bewirken?
Gerade die lokale Dimension der Erinnerungskultur kann einiges ausrichten. Wenn die weißen Flecken durch solides Wissen verschwinden, entstehen Gedenkorte und Diskussionen. So wird auch die heutige Bevölkerung an osteuropäischen Orten mit Kapiteln der eigenen Geschichte konfrontiert, die bislang verdrängt werden. Omar Bartov, zur Zeit am Holocaust Memorial Museum, hat eine Studie über einen Ort in der Ukraine in Arbeit. Er dokumentiert, dass dort einige tausend Juden ermordet wurden und zwar vor allem durch ukrainische Helfer. Daran ist nicht zu rütteln. Die Zahl der deutschen Besatzer im Ort und Umkreis war sehr klein. Wenn man dokumentieren kann, haben es Holocaust-Leugner und Geschichtsverdreher schwer.