Holocaust-Gedenken:Warum wir in den Abgrund von Auschwitz blicken müssen

  • Das Gedenken an den 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers von Auschwitz ist wichtig. Ein funktionierendes Gemeinwesen braucht solche Zeiten und Orte der kollektiven Erinnerung.
  • Die Ritualisierung der Erinnerung hat aber auch Risiken. Die Zahl derer, die finden, dass es genug sei mit dem Gedenken, ist hoch.
  • Der tiefere Grund für den Wunsch nach einem "Schlussstrich" ist die Angst vor dem Abgrund. Ohne ihn gibt es aber keinen Stolz auf dieses Land, keinen Spaß an der bunt gewordenen Republik.

Kommentar von Matthias Drobinski

Man kann nicht fassen, was in Auschwitz geschah. Die Historiker haben die Zahl der Toten geschätzt; die Justiz hat, viel zu spät, die Täter zur Verantwortung zu ziehen versucht. Es gibt die Berichte der Überlebenden, Filme, Bücher, Modelle für den Schulunterricht. Es gibt so viele Erklärungen und doch keine Erklärung.

Warum gab es Menschen, die ihre Intelligenz, ihren Sachverstand, ihre Verwaltungserfahrung nutzten, um Millionen Juden in den Tod zu schicken? Warum die Brutalität der Wächter, die in aller Seelenruhe Menschen erschlugen, die Empfindungslosigkeit der Ärzte mit ihren Menschenversuchen? Und warum haben so viele mitgemacht, gewusst, geahnt, geschwiegen?

Es ist nicht zu fassen, welches Leid Millionen Menschen in Auschwitz angetan wurde. Wer Überlebende trifft, spürt den Abgrund, der sie von den anderen Menschen trennt und über den kein Steg führt. Wenn sie erzählen, steht man da und schaut ins Dunkel.

Ritualisierung der Erinnerung hat auch ihre Risiken

Wenn nun in Auschwitz, im Deutschen Bundestag, in Israel und überall auf der Welt der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee gedacht wird, ist das der Versuch, dem Unfassbaren eine Fassung zu geben, eine Form, einen Ritus. Man kann das als zivilreligiöses Tamtam belächeln. Aber es ist gerade die Form und das Rituelle, das der Trauer einen Raum gibt und den Überlebenden des Lagers einen Ort, an dem sie gehört werden.

Ein funktionierendes Gemeinwesen braucht solche Zeiten und Orte der kollektiven Erinnerung. Solche Rituale formen auch die Politik: Zum Glück steht in Deutschland die Leugnung des Holocausts unter Strafe, werden antisemitische Vorfälle zum Skandal, gehört es zum Grundkonsens, dass es nie wieder Auschwitz geben dürfe.

Die Ritualisierung der Erinnerung hat auch ihre Risiken. Die Riten können hohl werden und der Selbstbeweihräucherung einer politischen Priesterschar dienen, während das Volk sich genervt abwendet. Sie können banal werden: Außer einem Haufen Verrückter findet es irgendwie jeder schlimm, Menschen zu vergasen. Die Riten können missbraucht werden, wie der Streit um Putins Ein- oder Ausladung zur Gedenkfeier in Auschwitz zeigt - und auch die Rede des russischen Präsidenten, der mit Auschwitz den Krieg in der Ostukraine rechtfertigt.

Auch deshalb ist die Zahl derer hoch, die finden, dass es nun genug sei mit dem Gedenken. 81 Prozent der Deutschen würden gerne die Geschichte der Judenverfolgung "hinter sich lassen", 58 Prozent wünschen gar einen "Schlussstrich", wie unter eine Rechnung, nach deren Begleichung man quitt ist - das sagt eine gerade erst veröffentlichte Studie der Bertelsmann-Stiftung.

Der Tod war ein Meister aus Deutschland

Die Argumente sind bekannt: Die einen finden, dass sie mit einem Ereignis von vor 70 Jahren nichts zu tun haben, die anderen hat schon vor 20 Jahren der Gemeinschaftskunde-Lehrer mit dem Thema genervt, wieder andere finden, dass es jetzt die Juden mal gut sein lassen sollen, wo sie es doch mit den Palästinensern auch nicht besser trieben: Aus, Schlussstrich, Ende.

Der tiefere Grund aber ist die Angst, die Unfähigkeit und manchmal auch der Unwille, in den Abgrund zu schauen, der sich auftut, wenn man an Auschwitz denkt, an das Unfassbare, das Mark und Seele Erschütternde: Der Boden ist dünn, auf dem wir stehen. Es war kein Failing State, wo der Millionenmord geschah; der Tod war ein Meister aus Deutschland. Es waren keine Wesen vom anderen Stern, die die Menschen in die Gaskammern trieben. Es war die Generation der Eltern, Großeltern und Urgroßeltern der heutigen Deutschen. Menschenwürde, Toleranz, Respekt, das alles ist verletzlich und stets gefährdet, nicht irgendwo da draußen in der Welt, sondern hier, jetzt.

"Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz", hat Bundespräsident Joachim Gauck gesagt. Das stimmt, wenn man den Satz so interpretiert: Es gibt keinen Stolz auf dieses Land mit seinem Rechtsstaat und seiner Demokratie, ohne den Blick in den Abgrund. Es gibt keinen Spaß an dieser bunt gewordenen Republik ohne die Empfindlichkeit dafür, wann, wo und wie die Menschenfeindlichkeit wächst. An Auschwitz muss jegliche Selbstsicherheit scheitern.

Auch deshalb kann und wird es keinen Schlussstrich geben. Denn dann träte an die Stelle des kollektiven Gedenkens das kollektive Verdrängen: Ein Land würde sich selbstsicher und unempfindlich machen. Es würde sich dann vielleicht als besonders identitätsstark begreifen, doch es würde Schaden an der Seele nehmen. In fünf Jahren, zum 75. Jahrestag, werden die meisten gestorben sein, die Auschwitz überlebten. Doch auch dann wird das Vergangene nicht vergangen sein. Es wird verstörend in die Gegenwart ragen, zum Glück und zum Nutzen des Landes.

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