Gedenken in Auschwitz:Das erschütternde „Nie wieder“

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„Es geht darum, was Menschen anderen Menschen antun können“: Gedenkfeier am Montag vor Block 11 im sogenannten Stammlager von Auschwitz. (Foto: WOJTEK RADWANSKI/AFP)

Wie erzählt man heute die Geschichte des Menschheitsverbrechens in Auschwitz? Eine deutsche Jugendgruppe zu Besuch in dem einstigen Konzentrationslager.

Von Viktoria Großmann, Oświęcim

In der Gerhard-Richter-Ausstellung wird lebhaft diskutiert. Das sei schon etwas groß geraten hier alles, sagt ein junger Mann mit lauter Stimme, drei andere junge Menschen nicken. Er meint vier abstrakte Bilder, man glaubt, Birken und Stacheldraht in den wenigen Farben zu erkennen. Daneben hängen, deutlich kleiner, schwarz-weiße, grobkörnige Fotografien, von einem KZ-Häftling unter Lebensgefahr aufgenommen im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Das, was man darauf erkennt, fährt einem dennoch scharf genug ins Bewusstsein: nackte Leichen; Frauen, die entkleidet vor einer Gaskammer stehen.

Diese Fotos haben Richter, den vielleicht berühmtesten Maler der deutschen Gegenwartskunst, zu seinem Zyklus „Birkenau“ inspiriert. Vor einem Jahr wurde die Ausstellung auf dem Gelände der Internationalen Jugendbegegnungsstätte eröffnet im Zentrum der polnischen Stadt Oświęcim – Auschwitz. Der Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, Marian Turski, selbst ein Überlebender, hatte damals gesagt: „Mich bewegen diese Bilder sehr.“

Der junge Mann im Ausstellungshaus findet, die Fotos sollten größer sein als die Bilder. Die Gemälde Richters, Jahrgang 1932, finden vor den Augen der jungen Leute, im Schnitt wohl ungefähr Jahrgang 2003, keine Gnade.

Von 1,83 Millionen Besuchern kamen nur 67 000 aus Deutschland

An diesem Ort, sagt später die 18-jährige Radya Hussain, erwarte sie, dass die Opfer des Holocaust eine Stimme bekommen. Viele Deutsche, so empfinde sie es, täten sich schwer mit dem Gedanken, dass es eine große Mehrheit gebraucht habe, um den NS-Staat aufzubauen und die Judenverfolgung zu ermöglichen. Daran seien viel mehr Menschen schuld, als es im Schulunterricht vermittelt werde. Viele Deutsche wehrten sich gegen diesen Gedanken der Schuld – und so eine Ausstellung komme dann eben dabei heraus. Der Name des Künstlers prangt ihr viel zu groß am Ausstellungshaus. Das sei die falsche Perspektive.

Radya Hussain gehört zu einer Gruppe von 78 jungen Erwachsenen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren, die an einer Bildungsreise des Bundestages teilnehmen, die aus Anlass des 80. Jahrestages der Befreiung des KZ Auschwitz stattfindet. Einige der Teilnehmer wurden von ihrem Ausbildungsbetrieb Volkswagen geschickt.

Hussain ist dabei, weil sie sich für die „Junge Islam Konferenz“ engagiert. Andere leisten Bundesfreiwilligendienst in einer KZ-Gedenkstätte, arbeiten für „Aktion Sühnezeichen“ oder die „Arolsen Archives“, die Informationen über NS-Opfer sammeln. Alle sind sie gesellschaftlich engagiert, setzen sich für Austausch ein. „Wir sollten nicht sagen: Wir wollen niemanden ausschließen“, sagt Hussain. „Wir sollen das einfach nicht tun.“ Am Tag zuvor hat die Hamburgerin zum ersten Mal in ihrem Leben den Gedenkort Auschwitz besucht. Die Worte „Nie wieder“ sind der jungen Frau zu klein. Ihr fehlt ein Plan, heute eine ähnliche Katastrophe zu verhindern. Wieder dächten zu viele Menschen, Rassismus und Ausgrenzung gehe sie nichts an oder sie könnten ohnehin nichts dagegen tun.

Nina Macaluso hat ihren Weg gefunden, selbst gegen ein Vergessen von Auschwitz anzuarbeiten. Die Auszubildende hat sich bei Volkswagen um eines der jährlichen Freiwilligenprogramme in der Gedenkstätte Auschwitz bemüht, nun ist sie durch ihren Arbeitgeber zum zweiten Mal hier. Bei dem zwölftägigen Programm ihres Arbeitgebers VW hat sie im vergangenen September an der Pflege und Erhaltung des Gedenkortes mitgearbeitet. Tausende persönliche Gegenstände, welche die SS-Leute den Menschen raubten, bevor sie sie in Gaskammern ermordeten, werden im Museum noch aufbewahrt. Es sind die letzten Zeugnisse einer menschlichen Existenz, die spurlos ausgelöscht werden sollte. Diese Dinge brauchen viel und sehr sachkundige Pflege. Die Schuhe müssen etwa regelmäßig vorsichtig von Staub gereinigt werden. Macaluso hat dabei geholfen.

„Ich habe so einen Kinderschuh in der Hand gehalten“, sagt sie und wirkt noch immer betroffen. „Ich bin selbst oft genug rassistisch angefeindet worden“, erzählt sie. „Zum Beispiel mit diesem Wort, das mit Z beginnt.“ Ihre Mutter stamme aus Rumänien, in Deutschland setzten das viele mit Roma gleich. Ihre Familie seien keine Roma, aber durch diese Beschimpfungen habe sie begonnen, sich für deren Schicksal zu interessieren. Etwa 21 000 Sinti und Roma wurden in Auschwitz ermordet. Nina Macaluso sagt heute: „Ich bin unendlich dankbar und stolz.“ Dafür, dass sie etwas beitragen durfte, diese Zeugnisse und diesen Ort zu erhalten.

Nach einer jüngst veröffentlichten Studie haben immer weniger junge Menschen gute Kenntnisse über den Holocaust. Von 1,83 Millionen Besuchern am Erinnerungsort Auschwitz im Jahr 2024 kamen nur 67 000 aus Deutschland – viel weniger als aus Polen, Großbritannien, Spanien und Italien. Man kann wohl behaupten, dass die 78 jungen Leute, die hier zum Gedenktag zusammenkommen, überdurchschnittlich viel über die deutsche Geschichte wissen. Sie haben den Lehrsatz „Ich bin nicht schuld an dem, was geschehen ist, aber verantwortlich dafür, dass es sich nicht wiederholt“ fest verinnerlicht.

Doch wie soll dieses „Nie wieder“ in ihrer Generation funktionieren? Eine Antwort darauf gibt auch die unterschiedliche Motivation der jungen Menschen, sich für die Erinnerung zu engagieren. Was bedeutet es etwa, wenn die Eltern oder Großeltern, wie bei Radya Hussain und Nina Macaluso, erst nach Deutschland eingewandert sind? Dann ist nicht mehr das deutsche Schuldgefühl Treiber der Verantwortung, dann sind es eigene Ausgrenzungserfahrungen und der Wille, so etwas nicht wieder zuzulassen. Für Radya Hussain geht es nicht in erster Linie darum, dass Deutsche diese Verbrechen begangen haben, sagt sie. „Es geht darum, was Menschen anderen Menschen antun können.“

Stefania Wernik wurde im Lager geboren. Ihr Bericht bewegt die jungen Leute

Doch wie erzählt man die Geschichte heute? Auf jeden Fall anschaulich und an Einzelschicksalen. Was sie nicht wollen, ist, mit Zahlen und Daten überhäuft zu werden. Zwei Tonnen Haare hinter Glas? Ja, aber welchen Frauen haben die gehört? Wo sind die Menschen hinter dem Schuhberg? Und warum, fragen sich die jungen Leute, konnten sie während der Führung durch die Gedenkstätte kaum Fragen stellen?

Am Nachmittag hören sie dann von so einem Schicksal – und dürfen viel fragen. Stefania Wernik, 80 Jahre alt, erzählt auf Polnisch, wie ihre Mutter als polnische Strafgefangene sie am 8. November 1944 im Lager Birkenau geboren hat, wie beide trotz Schmutz, Hunger und Kälte bis zur Befreiung des Lagers überlebten. Wie sie als Erwachsene die eintätowierte Nummer auf ihrem Oberschenkel von Wissenschaftlern untersuchen ließ. Doch auch die konnten die Nummer, die dem Säugling in die Haut gebrannt worden war, nicht mehr lesen – sie ist herausgewachsen.

Die jungen Zuhörer interessieren sich nicht nur für das Leid. Sondern auch für das Leben damit. Wie verarbeitet man das? Gab es psychologische Hilfe? Glaubt sie an Gott, fragt ein junger Mann. Und eine junge Frau will wissen: Was macht Ihnen denn Freude? Vielleicht ein besonderer Ort? Ein gutes Essen? Die alte Dame in ihrem eleganten Kostümkleid und den rot gefärbten Haaren findet keine rechte Antwort darauf. Das Sprechen über das Leid ihrer Mutter und das Leid, das sie selbst seit ihrer Geburt mit sich trägt, belasten sie. Was ihr Freude mache? Letztlich das Leben selbst. So schwer es auch sein könne. Dafür danke sie Gott.

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