Süddeutsche Zeitung

Holocaust-Gedenken:Gemeinsam gegen die Geister der Vergangenheit

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Von Nico Fried und Clara Lipkowski, Berlin

Was für ein sanfter Gesang. Und welch eine grausame Geschichte. Am Ende der Feierstunde im Bundestag erklingt ein Schlaflied von Ilse Weber. "Wiegala, weigala, wille. Wie ist die Welt so stille!" Die jüdische Schriftstellerin, so berichtete Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble zuvor, soll dieses Lied für ihren Sohn und andere Kinder gesungen haben, als sie am 6. Oktober 1944 in Auschwitz gemeinsam ins Gas gingen. "Es stört kein Laut die süße Ruh. Schlaf, mein Kindchen, schlaf auch du."

"Es gibt über Auschwitz kein heilsames Schweigen", sagt Wolfgang Schäuble

Es ist der Schlusspunkt eines würdigen Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Er wirkt tiefer, als jede Rede wirken kann. Und er rückt noch einmal jene in den Mittelpunkt, derer an diesem Tag gedacht wird: die Opfer. Die Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, politische Verfolgte und Menschen mit Behinderung. Das ist nicht verkehrt am Ende einer Feierstunde, in der auch viel davon die Rede war, was sich in den 75 Jahren seit der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum Guten entwickelt hat. Es ist der israelische Präsident, der das ausführlich würdigt. Und es ist dieser Reuven Rivlin, der auch einige bemerkenswerte Worte dazu sagt, was daraus für die Deutschen heute folgt.

"Es gibt über Auschwitz kein heilsames Schweigen." Mit diesen Worten hat Wolfgang Schäuble die Feierstunde eröffnet. Man müsse darüber reden. Auschwitz zeige, "wie verführbar wir sind". Es gebe immer noch Versuche, "das Verbrechen umzudeuten oder kleinzureden - das wird nicht gelingen". Da applaudiert das ganze Haus, selbst Abgeordnete, die solche Versuche schon unternommen haben.

Es sitzen Überlebende auf den Tribünen. Die Spitzen des Staates sind anwesend, und auch die Reihen der Abgeordneten sind fast vollständig besetzt. Der Ehrengast hat sich beim Betreten des Saales in alle Richtungen verneigt, zu den Parlamentariern wie auch zur Regierungs- und zur Bundesratsbank. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier würdigt den Auftritt Rivlins in seiner Rede mit den Worten: Dass ein israelischer Präsident an diesem Tag in diesem Hause spreche, sei "ein Geschenk", für das er sich im Namen seines Landes bedanke. Die Versöhnung sei "eine Gnade, die wir Deutsche nicht erhoffen konnten oder gar erwarten durften".

Welchen Weg Rivlin dafür gehen musste, erzählt er selbst, als er am Rednerpult steht: 1939 in Jerusalem geboren, kam er in dem Jahr, in dem Auschwitz befreit wurde, zur Schule. Als er und seine Freunde den ersten Überlebenden begegneten und ihre Geschichten hörten, dachten sie, "dass diese Menschen geistig umnachtet" seien, berichtet der Präsident 75 Jahre später. Erst allmählich hätten sie gesehen, dass es nicht die Zeugen aus den Konzentrationslagern waren, "die den Verstand verloren hatten". Der junge Rivlin demonstrierte später gegen den ersten Botschafter der Bundesrepublik in Israel und gegen sogenannte Wiedergutmachungszahlungen, hinter denen er den Versuch der Deutschen vermutete, sich von ihrer Schuld freizukaufen. Heute sehe er das anders.

Steinmeier hat zuvor in seiner Rede ein Motiv aus seiner Rede in Jerusalem vor wenigen Tagen variiert. "Ich wünschte, ich könnte - erst recht vor unserem Gast aus Israel - heute mit Überzeugung sagen: Wir Deutsche haben verstanden." Doch er befürchte: "Unsere Selbstgewissheit war trügerisch." Dann erinnert er wie schon in Yad Vashem an den versuchten Anschlag auf eine Synagoge in Halle. Doch im Bundestag erweitert er diesen Gedanken auf "Hass und Hetze", auf das "Gift des Nationalismus", das wieder in Debatten einsickere. "Wir dachten, der alte Ungeist würde mit der Zeit vergehen. Aber nein: Die bösen Geister der Vergangenheit zeigen sich heute in neuem Gewand."

Auch Rivlin verbindet seine freundlichen Worte mit einer Mahnung. Er habe einst geglaubt, die historische Erfahrung reiche, um den Antisemitismus zu erledigen. Doch er habe sich getäuscht. Der Kampf gegen den Antisemitismus sei kein Kampf, der mit einem Schlag zu gewinnen sei. Es brauche dafür Hartnäckigkeit. "Wir dürfen nicht aufgeben, wir dürfen nicht nachlassen", sagt Rivlin. Und Deutschland "darf hier nicht versagen". Wenn Juden dort, wo der Holocaust entworfen worden sei, heute nicht frei leben könnten, "werden Juden nirgendwo angstfrei in Europa und an anderen Orten auf der Welt leben können", so der Präsident.

Rivlin geht noch weiter, indem er umreißt, was er zur Sicherheit Israels zählt, der sich Deutschland verpflichtet fühlt. Er warnt vor Iran als "Risiko für den Weltfrieden". Und er würdigt die jüngsten Vorschläge von US-Präsident Donald Trump zur Beilegung des Nahost-Konflikts. Da rührt sich im Plenum keine Hand. Rivlin dürfte das geahnt haben. Denn er hatte diese Passage seiner Rede bereits mit den Worten eingeleitet: "Es gibt Debatten zwischen uns. Und Unterschiede."

Anne Mundstock, Auszubildende aus Wolfsburg, trifft als eine von rund 60 jungen Menschen Steinmeier, Rivlin und Schäuble später zu einer Diskussion. Mundstock nimmt an einer internationalen Begegnung junger Menschen teil, die der Bundestag organisiert hat. Sie hat auch Auschwitz besucht. Mundstock fragt, was Deutschland konkret tue, um Antisemitismus zu bekämpfen. Der Bundespräsident antwortet, Gesetze allein reichten nicht. Man habe zwar im Strafrecht nachgearbeitet, aber zudem müsse die Öffentlichkeit für den Holocaust sensibilisiert werden - und dazu zähle, womöglich auch eigene Ansichten und Vorurteile zu prüfen.

"Unsere Geschichte ist ein Teil unserer Identität", sagt die 22-jährige Mundstock nachher. Das müsse man stets im Hinterkopf haben, "ansonsten laufen wir Gefahr, dass Auschwitz und der Nationalsozialismus in Vergessenheit geraten und die Gesellschaft falschen Aussagen, Lügen und Propaganda verfällt".

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SZ vom 30.01.2020
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