Süddeutsche Zeitung

NS-Geschichte:Fragen nach dem Unbegreiflichen

  • Andrea von Treuenfeld lässt die Enkel von Holocaust-Opfern erzählen.
  • Jeder sucht hier seinen eigenen Weg, mit den Leiden der Großeltern umzugehen.

Rezension von Robert Probst

In einer Stadt in Israel sitzen vier ältere Damen beim Kuchen, eine Enkelin aus Deutschland ist zu Besuch und hat ihren neuen Freund mitgebracht.

Die vier Damen unterhalten sich auf Deutsch - und fragen den Freund dann laut und fröhlich: "Weißt Du, wo wir uns kennengelernt haben?".

"Nein."

Und alle im Chor: "Auf dem Todesmarsch".

Das war völlig normal, sagt Rebecca de Vries, die Enkelin, ein wichtiges Gesprächsthema unter diesen Frauen, die Auschwitz überlebt hatten und 1945 vor den vorrückenden Alliierten auf Todesmärsche geschickt worden waren. Den letzten Satz, den die Mutter von Erna de Vries in Auschwitz zu ihrer Tochter gesagt hatte, war: "Du wirst überleben und du wirst erzählen, was man mit uns gemacht hat."

Erna de Vries hat das beherzigt und relativ offen über ihr Leiden erzählt, trotz schwerer Traumata. Auch ihrer Enkelin. Wie die dritte Generation jüdischer Überlebender der NS-Verbrechen mit dem Holocaust umgeht, davon handelt das neue Buch von Andrea von Treuenfeld "Leben mit Auschwitz".

Es besteht im Hauptteil aus 14 Erzählungen von Enkelkindern, wie Großmütter und Großväter ihnen von Entmenschlichung und Entrechtung vor allem in Auschwitz berichtet - oder auch nicht berichtet haben und wie die Enkelkinder 75 Jahre danach damit umgehen, als Juden und als Deutsche.

Über allem "lastete eine dicke graue Wolke aus Schweigen und eisiger Kälte"

Es sind bewegende und meist auch sehr offene Berichte im erzählerischen Duktus - die Autorin kommt als Fragende gar nicht vor, leider erfährt man aber auch nicht, wie sehr die Erzählungen im Nachhinein bearbeitet oder verdichtet wurden.

Vieles ähnelt sich: dass man schon als Kind spürte, dass "etwas nicht stimmte"; die erste Frage nach der tätowierten Nummer auf dem Arm von Oma und Opa; die ersten zögerlichen Nachfragen, was damals gewesen ist - und die höchst unterschiedliche Reaktion darauf. Manche erzählten "kindgerecht", manche mit allen Details und manche gar nichts.

"Der Sinn des Lebens lag im Weiterleben. Aber darüber lastete eine dicke graue Wolke aus Schweigen und eisiger Kälte", formuliert etwa Barbara Bisicky-Ehrlich. Andere berichten vom fröhlichen und immer lustigen Opa, von Meistern im Verdrängen, von Großeltern, die ihre Enkel mit sehr viel Liebe und Zuneigung überschütteten.

Letztlich geht es aber auch darum, wie diese dritte Generation sich selbst sieht, wie höchst unterschiedlich sie etwa mit Besuchen in KZ-Gedenkstätten umgeht - die einen schaffen es emotional nicht, dorthin zu gehen, die anderen finden es gerade wichtig, sich dem Unvorstellbaren zu stellen - und ob sie sich auch noch wie ihre Elterngeneration für traumatisiert hält.

"Ich bin froh, dass mein Großvater sich geöffnet hat. Man sucht ja für sich nach Antworten, wo man herkommt. Und so weiß ich, wo ich stehe. Und ich weiß auch, dass Auschwitz mich mein Leben lang begleitet hat", sagt etwa Jenny Claus.

Wie man sich heute als Jude in Deutschland fühlt und wie die Gesellschaft mit der NS-Zeit umgeht, klingt nur hie und da an - wäre aber sicher stärker thematisiert worden, wären die Interviews nach dem Anschlag von Halle geführt worden.

Nichts ist hier Vergangenheit. Die Enkel setzen sich ernsthaft mit dem Unfassbaren auseinander. Ein Buch, das berührt und Mut macht.

Andrea von Treuenfeld: Leben mit Auschwitz. Momente der Geschichte und Erfahrungen der dritten Generation. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, München 2020. 255 Seiten, 20 Euro.

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SZ vom 10.03.2020/odg
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