Im Jahr 1951 erscheint im Rowohlt-Verlag "Der Fragebogen" von Ernst von Salomon, einer der größten Bucherfolge der jungen Bundesrepublik. Der Roman, der wie eine Autobiografie anmuten soll, nimmt sich den Entnazifizierungsfragbogen zur Grundlage. Salomon war am Kapp-Putsch beteiligt gewesen und hatte der paramilitärischen Organisation Consul angehört.
In dem Buch berichtet er davon, wie er 1945 in einem amerikanischen Internierungslager den ehemaligen SA-Obergruppenführer Hanns Ludin kennenlernt: "Ich fragte ihn sofort, aus welchem Grunde er nach dem 30. Juni 1934 hoher Führer der SA geblieben sei. Er antwortete ebenso aggressiv: aus den gleichen Gründen, aus welchen er seinerzeit in die SA eintrat; er habe nach einer Gelegenheit gesucht, in großem Rahmen pädagogisch zu wirken, durch Vorbild und Beispiel männliche Tugenden zu pflegen, Kameradschaft, Treue, Anständigkeit." Daran habe sich nach 1934 nichts geändert, im Gegenteil.
Aufschlussreich ist nicht nur Ludins Beschreibung der nationalsozialistischen Sturmabteilung, sondern auch die Zäsur, die der Fragesteller im Jahr 1934 setzt, von der Ludin aber wenig hält. Die sogenannte Röhm-Aktion, um die es in dieser Szene geht, bildet zweifellos einen bedeutenden Einschnitt in der Geschichte des Nationalsozialismus.
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Die SA-Führung um Ernst Röhm sowie Kritiker Hitlers wurden auf seinen Befehl hin von SS-Einheiten festgenommen und ermordet, um angeblichen Putschplänen zuvorzukommen. Der konservativen und innerparteilichen Kritik wurde der Garaus gemacht, und so gewann unter anderem die SS an Einfluss, die bis dahin der SA unterstanden hatte; auch die Position der Reichswehr wurde gestärkt.
Die Sturmabteilung hatte zwar diesen Machtkampf verloren, war damit aber nicht an ihr Ende gelangt. Wie es weiterging, zeigt der in Newcastle lehrende deutsche Historiker Daniel Siemens in seiner Geschichte der Sturmabteilung. Die 2017 auf Englisch erschienene Gesamtdarstellung liegt nun auf Deutsch vor.
Die nationalsozialistische Sturmabteilung hatte laut Siemens drei Leben. In der frühen Zeit der Weimarer Republik war sie zunächst ein paramilitärischer Wehrverband, dann entwickelte sie sich seit 1925/26 zu einer gewalttätigen sozialen Bewegung und wurde schließlich zwischen 1934 und 1945 zu einer Massenorganisation mit hilfspolizeilichen Aufgaben.
Auch wenn die SA seit 1934 von der Politik auf höchster Ebene ausgeschlossen war, blieb sie, so Siemens, auf der Alltagsebene ein wichtiger Akteur. Sie habe dem NS-Regime weiterhin als "Instrument für die Durchdringung der deutschen Gesellschaft" gedient.
Daniel Siemens interessiert sich in seinem Buch für die politischen Gewaltformen und die Integrationskraft der Sturmabteilung. Ihm geht es sowohl um die Ideologie als auch um die Praxis. Dabei nimmt er die Widersprüche und Wendungen in der Geschichte der SA sowie ihre Heterogenität in den Blick.
Denn das Bild von der Sturmabteilung bleibt einseitig, wenn man sie nur als Schlägertrupp oder Rowdy-Verein begreift. Siemens beschreibt, dass die SA nicht nur aus sozialen Problemfällen bestand, Studenten und Angehörige der Mittelschicht hätten sich ihr ebenfalls angeschlossen. Spätestens in der Nachkriegszeit sei der SA-Mann aber im Grunde zum Klischee geworden.
Die Sturmabteilung entstand 1921 als paramilitärische Kampforganisation der NSDAP, sie ging aus der Turn- und Sportabteilung hervor. Die SA-Männer, unter ihnen viele Freikorpskämpfer, waren nicht nur Saalschützer bei politischen Veranstaltungen, sondern auch Straßenkämpfer - wovon es in der Weimarer Republik freilich viele gab.
Zwischen 1923 und 1925, nach dem gescheiterten Hitlerputsch in München, war die SA verboten, bestand aber in regionalen Zellen fort und formierte sich bald wieder. Und sie bekam einen neuen Chef: Franz Pfeffer von Salomon. Er zentralisierte die Sturmabteilung und organisierte sie nach dem Vorbild der deutschen Streitkräfte. Immer wieder kam es zu Spannungen zwischen der NSDAP und der SA, deren Aktionismus sich kaum zügeln ließ. 1930 ernannte sich Hitler zum Obersten SA-Führer, die Leitung übernahm ein Jahr später sein alter Gefährte Ernst Röhm.
Die Gewalt richtete sich gegen Juden und politische Gegner. Es ging in diesen Jahren darum, wie Siemens zeigt, die öffentliche Ordnung und die Republik zu destabilisieren, ja zu zerstören. So trug die SA ihren Teil zum Aufstieg der NSDAP bei. Früh richtete sie Konzentrationslager ein, in denen 1933 ungefähr 80 000 Menschen interniert waren. Antisemitismus sei "von Anfang an das Schlüsselelement der ideologischen Ausrichtung der SA" gewesen, schreibt Siemens.
Im Juli 1933 etwa hetzte die Marine-SA in Cuxhaven ein deutsch-jüdisches Paar durch die Stadt. Die Frau musste ein Schild um den Hals tragen: "Ich bin am Ort das größte Schwein und laß mich nur mit Juden ein!" Dies ist nur ein Fall neben unzähligen anderen in der Zeit davor und danach.
Anders als Peter Longerich hält Siemens die SA nicht für eine "gezähmte Parteiarmee"
Die SA war nicht nur ein geselliger Männerbund, der Karrierechancen, "braune Hemden" und eine eigene Zigarettenmarke bot (bis 1934 waren die SA-Männer aufgefordert, "Sturm"-Zigaretten einer Dresdner Firma zu rauchen, die dafür Geld in die Kassen der Organisation fließen ließ); Disziplin, Tatkraft und nationale Wiedergeburt sollten propagiert werden.
Lebensform und Ideologie, Überzeugung und Zugehörigkeit gingen Hand in Hand. Die SA habe, so der Historiker, ein zentrales Versprechen des Nationalsozialismus verkörpert: "gesellschaftliche Teilhabe und Zugehörigkeit zur 'Volksgemeinschaft' für alle 'reinrassigen' Deutschen".
Während Hitler und anderen führenden NS-Politikern daran gelegen war, die 1933 errungene Macht zu stabilisieren, wollte Röhm die nationalsozialistische Revolution weitertreiben. Kompromisse mit den Kräften der alten Ordnung zu schließen, war seine Sache nicht. Und immerhin stand die SA 1934 mit knapp vier Millionen Mitgliedern auf dem Höhepunkt ihres Einflusses.
Nach der Ermordung der SA-Führung machte sich Apathie in ihren Reihen breit. Niedergang, Ungewissheit und Neuorientierung sind die Wörter, mit denen Siemens die Zeit bis 1937 beschreibt. Die gewalttätigen Aktionen setzten sich aber fort. Das gilt auch für andere Praktiken: Schon seit den frühen Dreißigerjahren habe die SA, so Siemens, den ländlichen Raum und die bürgerliche Welt erobert und eine immer größere Rolle in Reit- und Schützenvereinen gespielt.
Die SA habe sich gewandelt, aber man solle ihre Rolle nach 1934 nicht unterschätzen, argumentiert der Autor. Hier unterscheidet sich seine Deutung von der des Historikers Peter Longerich, der in seinem 1989 erschienen Buch über die SA von einer "gezähmten Parteiarmee" spricht, die sich spätestens nach den Novemberpogromen 1938 endgültig in die Bedeutungslosigkeit verabschiedet habe.
Daniel Siemens buchstabiert seine Interpretation zur unterschätzten Rolle der SA nach 1934 anhand verschiedener Felder aus: Die SA habe einen großen Beitrag zur Militarisierung der Gesellschaft geleistet, indem sie etwa für die vormilitärische Ausbildung zuständig war; sie habe KZ-Insassen und Zwangsarbeiter bewacht und mit ihren Kampfgruppen hinter der Front agiert; zudem habe die SA paramilitärische Aufgaben im Zusammenhang mit dem "Anschluss" Österreichs, der Zerschlagung der Tschechoslowakei sowie der Eingliederung des Memelgebietes übernommen; seit den Dreißigerjahren habe sie für das östliche Europa Siedlungspläne entworfen.
Außerdem wurden in den frühen Vierzigerjahren SA-Generäle als Diplomaten nach Südosteuropa geschickt, um die Ermordung der Juden vorzubereiten. Hier kommt wieder Hanns Ludin ins Spiel: Als deutscher Gesandter war er seit 1941 in Bratislava tätig, um dort mit der Regierung über die Deportation der slowakischen Juden zu verhandeln und sie voranzutreiben.
Nach dem Krieg haben, wie Siemens zeigt, ehemalige SA-Männer von dem vorherrschenden Bild einer "gewaltbereiten, aber politisch randständigen Organisation" profitiert. Ihre Karrierewege waren dann so vielfältig wie die anderer Nazis: Sie wurden zu Bürgermeistern, Historikern oder Naturschützern.
Dass Siemens die Forschung im Hinblick auf die Rolle der SA nach 1934 als "kumulative Banalisierung" beschreibt, ist wohl übertrieben, entspricht aber auch nicht dem sonstigen Charakter des Buches, das ruhig, genau und klar erzählt, was sich zugetragen hat. Er schildert nicht nur die Geschichte der nationalsozialistischen Sturmabteilung, sondern arbeitet zugleich ihre gesellschaftliche Bedeutung heraus. Für die Frühgeschichte der SA wird auch Longerichs Buch bedeutsam bleiben, wer an der ganzen Geschichte und den vielfältigen jüngeren Forschungsentwicklungen interessiert ist, sollte zu Daniel Siemens' Buch greifen.
Isabell Trommer ist Politikwissenschaftlerin.