Hitler-Stalin-Pakt:"Von Hitler bekam Stalin viel einfacher das, was er wollte"

Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop bei der Unterzeichnung des Deutsch-Sowjetischen Freundschaftsvertrages, Moskau 1939

Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop unterschreibt am 28. September 1939 in Moskau den Deutsch-Sowjetischen Freundschaftsvertrag. In dem Abkommen wurden Ungenauigkeiten des Hilter-Stalin-Pakts geklärt. Hinter Ribbentrop Josef Stalin (re.) und der sowjetische Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Wjatscheslaw Molotow.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Warum kooperierte die Sowjetunion am Vorabend des Zweiten Weltkrieges mit Nazi-Deutschland und nicht mit Frankreich und Großbritannien? Historiker Arnd Bauerkämper erklärt, was 1939 unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg passiert ist.

Interview von Paul Katzenberger, Moskau

Vor 80 Jahren, am 23. August 1939, unterzeichneten in Moskau die Außenminister des "Dritten Reiches" und der Sowjetunion, Joachim von Ribbentrop und Wjatscheslaw Molotow, einen Nichtangriffsvertrag, den sogenannten Hitler-Stalin-Pakt. Dieser gilt als eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Hitler am 1. September 1939 Polen überfiel - was den Zweiten Weltkrieg entfesselte. 2008 rief das Europäische Parlament den 23. August als "Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus" aus.

In Deutschland wird dieser Gedenktag allerdings weitgehend ignoriert. Es gibt nur wenige größere Veranstaltungen zum Thema. Historiker Arnd Bauerkämper von der Freien Universität Berlin erläutert die Bedeutung des Hitler-Stalin-Paktes und warum der Jahrestag in den ostmitteleuropäischen Staaten eine große Rolle spielt, das Gedenken an ihn Deutschland aber in ein Dilemma führt.

SZ.de: Mit der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes vor 80 Jahren hatte Nazi-Deutschland den Rücken frei für den Überfall auf Polen, der wenige Tage später erfolgte. Wäre es ohne den Vertrag überhaupt zum Zweiten Weltkrieg gekommen?

Arnd Bauerkämper: Der Nichtangriffspakt hat Hitlers Plan, Polen anzugreifen, auf alle Fälle in hohem Maß erleichtert. Es war ja nicht auszuschließen, dass Großbritannien und damit auch Frankreich im Falle eines Angriffs auf Polen intervenieren würden.

Musste Hitler nicht sogar zwingend von einer Intervention des Vereinigten Königreichs ausgehen? Die Briten hatten den Polen wenige Monate vorher doch eine Sicherheitsgarantie ausgesprochen.

Das stimmt. London und Paris hatten Polen am 31. März 1939 nach der deutschen Okkupation der sogenannten Rest-Tschechei eine Garantieerklärung gegeben. Hitler hoffte im August allerdings noch, dass Großbritannien wie im Falle der Sudetenkrise 1938 vor einer Intervention zugunsten Polens zurückschrecken würde. Darauf konnte er nach der Unterzeichnung seines Paktes mit Stalin mit größerer Zuversicht setzen als vorher, denn der Pakt signalisierte auch den Westmächten, dass diese nicht darauf hoffen konnten, die Sowjetunion werde den Polen beispringen. Außerdem war für Hitler natürlich sehr wichtig, dass er selbst die Sowjetunion nicht mehr als Gegner fürchten musste.

In Russland wird der Hitler-Stalin-Pakt heute damit gerechtfertigt, dass er notwendig war, um die Sowjetunion aus dem aufziehenden Zweiten Weltkrieg herauszuhalten. Tatsächlich hatte sich Moskau noch bis zum Sommer 1939 um einen Beistandspakt mit den Westmächten bemüht - erfolglos. Ist die heutige Lesart des Übereinkommens in Russland daher berechtigt?

Nein. Denn die Verhandlungen zwischen der Sowjetunion und den Westmächten scheiterten im Wesentlichen daran, dass die Sowjetunion die territoriale Integrität Polens nicht gewährleisten wollte, weil sie Zugangsrechte beanspruchte. Jeder wusste, dass dahinter die Absicht stand, Teile Polens zu annektieren. Von Hitler bekam Stalin viel einfacher das, was er wollte.

Trägt Moskau also eine Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs?

Sicherlich, zumindest indirekt. Die Hauptverantwortung liegt eindeutig beim nationalsozialistischen Deutschland. Die Sowjetunion hat aber gewissermaßen den deutschen Angriff auf Polen ermöglicht. Stalin war es als kalkulierendem Politiker durchaus bewusst, dass der Nichtangriffsvertrag den Angriff erleichtern würde. Und in dem geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt, dessen Existenz von der Sowjetunion erst unter Gorbatschow 1989 überhaupt eingeräumt wurde, waren territoriale Abgrenzungen schon klar vereinbart worden: Am 17. September griffen sowjetische Armeeeinheiten Polen von Osten her an und besetzten es. Dies verschlechterte die militärische Lage Polens noch weiter.

Der 23. August wird seit elf Jahren als "Europäischer Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus" begangen. In Deutschland findet er aber wenig Beachtung. Warum ist das so?

Hobbypsychologisch würde ich da von Scham sprechen. Denn Deutschland hat sich mit dem Hitler-Stalin-Pakt und seinen Folgen natürlich enorm viel Schuld gegenüber den osteuropäischen Staaten aufgeladen, die nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Beitritt zur EU und zur Nato direkte Nachbarn und Verbündete wurden. Damit wurde der 23. August hierzulande eigentlich erst wahrgenommen. In der Bundesrepublik galt der Hitler-Stalin-Pakt zuvor - vor allem in den Fünfzigerjahren - noch als Beleg für die Mitschuld der Sowjetunion am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Dass der Hauptschuldige natürlich Deutschland war, wurde dabei ein wenig vergessen. Als neuer Gedenktag erfordert der 23. August also ein weiteres Eingeständnis von Verantwortung und Schuld. Die deutschen Medien sprechen das Thema im Gegensatz zur Politik und zur Zivilgesellschaft auch durchaus an. In ihnen wurde dieser Tag in den vergangenen zehn bis 15 Jahren sehr oft beleuchtet.

"Man kann das Dilemma nur akzeptieren"

Deutschland hat sich seiner historischen Schuld im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus sehr weitreichend gestellt. Warum gilt das nicht für den Nichtangriffspakt?

Es ist eben ein schwieriges historisches Ereignis, das lange vergessen oder verdrängt wurde. Hinzu kommt etwas anderes: Der 23. August belastet bis heute das Verhältnis zwischen den baltischen Staaten und Polen als Opfern des Paktes einerseits sowie Russland andererseits. Deutschland steht da vor der Wahl: Auf welche Seite schlägt es sich? Außenpolitisch ist das nicht ganz leicht. Einerseits will die Bundesrepublik das ohnehin angespannte Verhältnis zu Russland nach der Annexion der Krim und angesichts des Konflikts in der Ostukraine nicht zusätzlich belasten, andererseits steht die Bundesregierung gegenüber den unmittelbaren Nachbarstaaten im Osten im Wort.

Historiker Arnd Bauerkämper.

Arnd Bauerkämper forscht an der Freien Universität Berlin zum Nationalsozialismus und seiner Erinnerungsgeschichte.

(Foto: Bernd Wannenmacher)

Was könnte man denn aus deutscher Sicht tun, um dieses Dilemma aufzulösen?

Das ist aufgrund der verschiedenen Interessen schwer aufzulösen. Einerseits besteht ein Interesse der Bundesregierung an einer sicheren Energieversorgung über die direkten deutsch-russischen Gaspipelines Nord Stream 1 und 2, von denen sich die Ostmitteleuropäer aber umgangen fühlen - nicht ganz zu Unrecht. Andererseits empfindet es die russische Seite als Fußtritt, wenn sich die Bundeswehr an militärischen Missionen in den baltischen Staaten und Polen beteiligt, die als eine Verletzung der Nato-Russland-Grundakte von 1997 (die die dauerhafte Präsenz von ausländischen Nato-Truppen östlich von Deutschland ausschließt; Anm. d. Red.) angesehen werden können.

Deutschland muss dieses doppelte Spiel also ständig weiterspielen?

Ich denke, man kann das Dilemma nur akzeptieren. Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland sind aus guten Gründen verhängt worden, denn der Bruch des Budapester Memorandums (in dem Abkommen verpflichtete sich Russland 1994 unter anderem gegenüber der Ukraine als Gegenleistung für einen Nuklearwaffenverzicht, die bestehenden Grenzen des Landes zu achten; Anm. d. Red.) war ein berechtigter Anlass. Deutschland sollte aber im Gespräch mit Russland bleiben, und sei es auf unterer und mittlerer Ebene - etwa in Bezug auf die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen. Zugleich ist die deutsche Politik aber auch gut beraten, den unmittelbar östlichen Nachbarstaaten den Rücken zu stärken, schon aus historischer Verantwortung heraus.

Die aber nicht so weit reicht, dass Frau Merkel am 23. August nach Polen oder in ein baltisches Land fährt, um an den Gedenkfeiern teilzunehmen, die in diesen Ländern überall stattfinden.

Es steckt noch ein zusätzlicher geschichtspolitischer Konflikt dahinter, warum dieses Datum in den genannten Ländern eine größere Bedeutung hat als im Westen. Die ostmitteleuropäischen Staaten wurden von der Sowjetunion 1945 zugleich befreit und besetzt. Die westlichen Staaten wurden hingegen von den Streitkräften demokratischer Staaten befreit, sie konnten selbst demokratische Systeme etablieren, auch die Bundesrepublik nach wenigen Jahren. Den Westeuropäern fehlt die Erfahrung der sowjetischen Besatzung von über 40 Jahren. Und das schlägt sich eben auch in den historischen Deutungen nieder.

In welcher Weise?

In den ostmitteleuropäischen Staaten wird das 20. Jahrhundert viel stärker als im Westen als ein Jahrhundert der totalitären Diktaturen gedeutet. Sie gruppieren die Nazi-Diktatur und -Besatzung ganz eng an die sowjetische Diktatur und Besatzung. Das ist für sie - übertrieben gesagt - fast eine Einheit. Gegenüber dieser Totalitarismustheorie, der weitgehenden Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Stalinismus, die hinter der Ausrufung des 23. August als Gedenktag steht, war man in Westeuropa immer skeptisch, weil man sich fragte, ob der Massenmord an den Juden nicht doch etwas Spezifisches und Einzigartiges war. Die ostmitteleuropäischen Staaten mussten im Rahmen der EU lange gegen diese Vorbehalte kämpfen, bis sie diesen Gedenktag 2008 durchsetzen konnten.

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