Historiker über die Union:"Die CDU ist inhaltlich ausgezehrt"

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2014 verteilte die CDU diese Schlüsselbänder an ihre Anhänger. Kritiker wie Andreas Rödder fürchten, dass die Partei weiter an Zustimmung verliert, wenn sie nicht wieder konservativer wird. (Foto: picture alliance / dpa)

Angela Merkel und der CDU gehe es nur um Machterhalt, klagt Andreas Rödder. Der konservative Historiker sagt: Die Partei muss nach rechts rücken und Stellung beziehen gegen eine ideologisierte "Kultur des Regenbogens".

Interview von Matthias Kolb

Der Historiker Andreas Rödder liebt den Streit und die Zuspitzung: Das CDU-Mitglied wirft Grünen-Chef Robert Habeck schon mal "ideologische Realitätsverweigerung" vor. Oft kritisiert er auch Kanzlerin Angela Merkel - für die Flüchtlingspolitik und ihre Ideenlosigkeit. Der 50-Jährige lehrt Neueste Geschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz und wurde 2015 durch sein Buch "21.0 - Eine kurze Geschichte der Gegenwart" (C.H. Beck) bekannt. Darin analysiert er Grundprobleme wie Gleichstellung, Klimawandel, Migration oder die Rolle des Staates. Zurzeit arbeitet er an seinem nächsten Buch "Wer hat Angst vor Deutschland?"

SZ: Herr Rödder, Harald Schmidt hat mal gesagt, um konservativ zu sein, brauche man "die Bibel, Goethe und ein Sparbuch". Was bedeutet der Begriff für Sie?

Andreas Rödder: Das ist ein netter Spruch, aber doch zu wenig. Konservativ ist vor allem eine Haltung zum Wandel. Der Konservative weiß, dass Veränderungen nicht zu verhindern sind und deswegen will er diesen Wandel möglichst menschenverträglich gestalten. Das ist der Unterschied zum Traditionalisten, der in der Öffentlichkeit oft verwischt wird. Dieser wünscht sich, dass alles so bleibt, wie es ist, während der Reaktionär das Rad zurückdrehen will.

Union und SPD haben sich nun auf einen Koalitionsvertrag geeinigt. Die Verteilung der Ministerien macht doch eines klar: Die CDU hat sich über den Tisch ziehen lassen.

Die Regierungsbildung dokumentiert die inhaltliche und politische Auszehrung der CDU. Alte Schwergewichte wie Thomas de Maizière oder Wolfgang Schäuble sind weg, die europapolitischen Positionen geräumt und neue Ideen nirgends in Sicht. Was bleibt, ist reiner Machterhalt. Die Frage ist, ob sich eine Gegenbewegung formiert. Die CDU braucht dringend eine Erneuerung, denn die Partei hat eine Verantwortung für die Demokratie und für das Land.

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Nicht nur CDU-Wirtschaftsrat Wolfgang Steiger kritisiert den Koalitionsvertrag. CDU-Politiker hadern mit dem Verlust des Finanzministeriums. Die Schwesterpartei ist hochzufrieden: Der CSU-Vorstand hat bereits zugestimmt.

Wäre Ihnen eigentlich eine Jamaika-Koalition lieber gewesen?

Grundsätzlich ja, aus normativer Sicht. Jamaika wäre die Chance gewesen, dass Union, FDP und Grüne ihre gemeinsame Basis stark gemacht hätten, nämlich den Vorrang der Gesellschaft vor dem Staat. Das ist der große Unterschied gegenüber der SPD. Dazu hätten die Protagonisten allerdings bereit sein müssen, nicht nur Details abzuarbeiten, sondern ein gemeinsames Projekt zu formulieren. Aber die Ideenarmut ist das Problem unserer aktuellen Politik. Die CDU ist unter Angela Merkel zur Moderatorin der Macht geworden.

Sollte die CDU aus ihrer Position der Mitte, in die Angela Merkel sie in den vergangenen 12 Jahren gerückt hat, wieder weiter nach rechts rücken?

Ja, denn sonst würden immer größere Teile der Gesellschaft zur AfD abwandern, weil sie sich nicht mehr repräsentiert fühlen. Diese Wähler anzusprechen, ist die Aufgabe der Union. "Rechts" heißt natürlich nicht dumpf rechts, sondern rechts in einem liberal-konservativen Sinne, argumentierend und reflektiert. Dann kann eine konservative Haltung auch einmal bei einer linken Position rauskommen. Entscheidend ist, dass die Partei wieder offener debattiert. Ich habe kein Problem damit, in einer Debatte argumentativ zu unterliegen, aber Demokratie setzt einen öffentlichen Meinungsbildungsprozess voraus, statt nur "alternativlos" zu exekutieren.

Die Debatte um Merkels Nachfolge läuft ja schon. Wird sich die CDU bald programmatisch erneuern?

Ich würde es mir wünschen, denn wirklich programmatisch diskutiert hat die CDU zuletzt in den Siebziger Jahren. Das waren die für CDU-Verhältnisse ziemlich wilden Zeiten des jungen Helmut Kohl. Das Ganze ist dann schnell zurückgefahren worden, als die Partei 1982 wieder den Kanzler stellte. Die nächste Erneuerung hätte 1998 stattfinden müssen und der damalige Parteichef Wolfgang Schäuble hatte den Prozess auch eingeleitet.

Und dann kam die Spendenaffäre.

Genau, deswegen wurde die Erneuerung abgebrochen, und das war für die Partei fatal. Dass sich Merkel in ihren ersten Jahren als CDU-Vorsitzende darauf konzentriert hat, ihre Macht zu behaupten, ist vollkommen nachvollziehbar. Mit "Moderatorin der Macht" meine ich auch, dass die Kanzlerin ihre starke Position aus einem sehr genauen Abarbeiten der Koalitionsverträge gezogen hat. Nur zahlt man dafür eben einen Preis - und der Preis der CDU liegt in ihrer programmatischen Erschöpfung.

In der SPD wurde lange diskutiert, ob Martin Schulz nicht den Parteivorsitz abgeben sollte, wenn er ins Kabinett geht. So könnte es nun kommen. Wäre das denkbar, dass Merkel bald nicht mehr CDU-Chefin ist, um mehr Debatten zu ermöglichen?

Die Parteien haben unterschiedliche Kulturen. Die Grünen fetzen sich auf den Parteitagen permanent und die SPD wechselt ihre Vorsitzenden fast so oft wie der Hamburger SV den Trainer. Die CDU macht jede Sachfrage sofort zur Machtfrage. Daher ist diese Frage insofern müßig, als Angela Merkel schon sehr deutlich gemacht hat, dass eine Trennung von Parteivorsitz und Kanzleramt für sie überhaupt nicht denkbar ist. Der permanente Verweis auf die vermeintlichen Notwendigkeiten des politischen Geschäfts raubt aber den Spielraum für kreative Lösungen.

Oft heißt es, die CDU müsse weiblicher, jünger und bunter werden. Tut sich da etwas?

Diesen Eindruck habe ich nicht. Alle Parteien müssten offener sein, aber sie haben ein Rekrutierungsproblem. Immer weniger Bürger sind bereit, sich politisch einzubringen. Ich bin übrigens kein Kulturpessimist, denn die Leute sind weiter sehr aktiv. Das Engagement ändert sich und wird eben kurzfristiger. Aber es ist schon problematisch, dass die Parteien ihre Funktionsträger aus einem immer kleineren Teil der Gesellschaft rekrutieren. Ich selbst bin einer der wenigen Wissenschaftler, der offen zu seiner Parteimitgliedschaft steht.

Theoretisch hätten Sie in Berlin mitverhandeln können: Sie gehörten 2011 und 2016 zum Schattenkabinett der rheinland-pfälzischen CDU-Chefin Julia Klöckner. Worauf hätten Sie da gedrängt?

Ich wünsche mir eine moderne, konservativ-liberale Bildungspolitik, die echte Chancengerechtigkeit herbeiführt. Die CDU war sehr gut darin, die Bildungsreformen der Sechziger und Siebziger Jahre voranzutreiben. Ich habe selbst davon profitiert und bin aus einem ländlich-katholischen Milieu zum Professor aufgestiegen. Das ist die große Erfolgsgeschichte der BRD, aber sie hat Menschen aus der Unterschicht und Migranten nicht erreicht. Ich habe durch die Gerechtigkeitsphilosophie von Amartya Sen gelernt, dass es einen Unterschied zwischen formalen Chancen und echten Chancen gibt.

Wie sieht es hier in Deutschland aus?

Die formalen Chancen sind besser als je zuvor, aber die helfen Kindern aus abgehängten Vierteln und Migrantenmilieus nicht. Hier müsste man proaktiv auf junge Leute zugehen und zugleich akzeptieren, dass aus gleichen Chancen mitunter unterschiedliche Ergebnisse entstehen. Das will die politische Linke aber nicht wahrhaben. Ein solches bildungspolitisches Projekt könnte die CDU neu beleben.

Dafür müsste der Staat aber viel stärker eingreifen. Klingt nicht sehr konservativ.

In diesem Fall heißt das: mehr Staat, um mehr Eigenverantwortung zu ermöglichen. Konservativ heißt ja nicht, alles so zu lassen, wie es ist, sondern das Bestehende pragmatisch zu verbessern. Und dazu gehört auch, alte Zöpfe abzuschneiden, wenn es nötig ist. Es reicht ja nicht, immer nur das dreigliedrige Schulsystem zu verteidigen und so zu tun, als wäre alles prima, wobei das je nach Bundesland sehr unterschiedlich ist, auch das muss man berücksichtigen. Auf der Basis von eingeübten Grundlagen neue Wege zu gehen und zeitgemäße Lösungen zu finden, das ist im besten Sinne konservativ.

Sie kritisieren oft das "Gender Mainstreaming", also die von der EU unterstützte Strategie zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter. Was stört Sie daran?

Der Zeithistoriker Andreas Rödder lehrt als Professor in Mainz und ist Mitglied im Vorstand der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung. Momentan ist er Fellow am Historischen Kolleg in München, wo er sein nächstes Buch schreibt. Es erscheint im Herbst und trägt den Titel: "Wer hat Angst vor Deutschland?" (Foto: Bert Bostelmann)

Die gesamte "Kultur des Regenbogens", also Gender Mainstreaming, Anti-Diskriminierung, Inklusion und Diversität, hat berechtigte Anliegen. Als Konservativer muss ich anerkennen, dass hier Emanzipationsgewinne entstanden sind, die konservative Politik allein nicht erreicht hätte. Aber es gilt auch zu erkennen, an welcher Stelle das in Ideologie umschlägt, und das erleben wir ja gerade flächendeckend. Denken Sie an das Gedicht von Egon Gomringer, das nun in Berlin übermalt wird, oder das Gemälde mit den Nymphen, das aus einem Museum in Manchester entfernt wurde, oder die "Mohren-Apotheken", die mit Farbbeuteln beworfen werden. Konservative Politik bedeutet auch, diesen Überspitzungen entgegenzutreten. Die Union muss das adressieren, denn sonst treiben diese Vorgänge die Leute scharenweise der AfD zu

Sie führen oft an, dass von Gleichstellung oft Frauen profitieren, die diese Hilfe gar nicht brauchen.

Ich bezeichne mich ja als postmodernen Konservativen, weil der Konstruktivismus vieles richtigerweise in Frage gestellt hat. Den Wandel verträglich zu gestalten, bedeutet auch, ursprünglich ungewollte Konsequenzen im Blick zu haben. Natürlich war es richtig, dass wir Gleichberechtigung von Frauen in einer vorher nie da gewesenen Weise betrieben haben. Niemand bestreitet, dass es Geschlechterdiskriminierung gab und natürlich wurden Homosexuelle benachteiligt. Die ideologische Überspitzung der Regenbogenkultur, die teils tyrannische Züge annimmt, führt aber dazu, dass eine kinderlose Unternehmertochter aus München-Bogenhausen einem vierfachen Familienvater mit Migrationshintergrund aus Berlin-Neukölln vorgezogen wird. Hier beißen sich verschiedene Konzepte von Gerechtigkeit, und das muss man eben auch sehen.

Ist das nicht ein drastischer Einzelfall?

Der Soziologe Talcott Parsons hat schon in den fünfziger Jahren gesagt, dass jede Inklusion neue Exklusion nach sich zieht. Und die Frage, wer gleichstellungsberechtigt ist, ist immer auch eine Machtfrage. Praktiker wie Thomas Sattelberger, der sich als Personalvorstand der Telekom massiv für gender mainstraming und Diversität eingesetzt hat, sagen klar, dass es eine Hierarchie der Gleichstellungsberechtigung gibt: oben stehen die Ansprüche von Frauen, unten die von Menschen mit Behinderung. Das sind neue Machtstrukturen, die man politisch bearbeiten muss.

Dann wird Ihnen die geschlechtergerechte Schreibweise nicht gefallen.

Nochmals in aller Klarheit: Ich bin nicht gegen Gender Mainstreaming, sondern gegen deren Verabsolutierung. Das Binnen-I lese ich vor allem bei ProfessorInnen und ManagerInnen. Haben Sie schon mal die geschlechtergerechte Schreibweise für MörderInnen und MenschenhändlerInnen gelesen? Mich stört, dass über diese neue diskursive Ordnung eindeutig polarisierte Bilder von aggressiver Männlichkeit und guter Weiblichkeit entstehen. Darauf hinzuweisen, gehört zu einer lebendigen Debatte. Und es kann nicht sein, dass immer größere Teile der Öffentlichkeit von einer immer unduldsameren Kultur des Regenbogens ausgeschlossen werden - zumal sie das ins Ressentiment treibt. Sich hier aktiv einzuschalten, ist der Auftrage der bürgerlichen Mitte in einer demokratischen Öffentlichkeit.

Die harte Haltung der Union beim Familiennachzug passt in den Augen vieler nicht zum C in den Parteinamen. Viele verstehen nicht, was daran christlich sein soll, Ehepartner sowie Kinder und Eltern zu trennen. Haben Sie das Gefühl, dass die Union in der öffentlichen Diskussion gut argumentiert hat?

Nein, aber die deutsche Diskussion ist weiter enttäuschend unangemessen. Die humanitäre Flüchtlingspolitik des Jahres 2015 hat dazu geführt, dass etwa eine Million Menschen, die es bis dahin nach Deutschland geschafft haben, hier bleiben können. Für die Anderen, die es wegen des Abkommens mit der Türkei nicht hierher geschafft haben, gibt es keinen Platz mehr. Dass das gerecht ist, würde ich bezweifeln. Es fehlt an Ehrlichkeit.

Inwiefern?

Die Gesellschaft hat sich doch kollektiv in die Tasche gelogen. Im Herbst 2015 wurde so getan, als kämen lauter Ingenieure und Ärzte mit ihren jungen Familien nach Deutschland. Und nun stellen wir entsetzt fest, dass der Bildungsstand von vielen Flüchtlingen weit zurückhängt und da nichts zu machen ist. Auch beim Thema Gewalt erleben wir eine erschreckend unterkomplexe Polarisierung der öffentlichen Debatte. Auf der einen Seite wird jeder Asylbewerber, der mal bei Rot über die Ampel geht, zum Kriminellen abgestempelt und auf der anderen Seite gibt es Leute, die die Übergriffe in der Kölner Silvesternacht zu einem allgemeinen Männer-Problem erklären.

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Einiges erinnert an die letzten Regierungen der Kanzler Schmidt und Kohl. Und das in einer Zeit, in der die Vorstellungen über die Zukunft des Landes weiter auseinanderstreben als jemals zuvor.

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Daran ändert eine Obergrenze aber auch nichts.

In dieser Frage haben wir nach wie vor das Problem, dass wir nicht zwischen Asyl und regulärer Zuwanderung unterscheiden. Eine diskursive Katastrophe! Natürlich kennt die Logik des Asylrechts keine Obergrenze. Aber wir haben ein Asylrecht, das auch für die Zuwanderung nicht Verfolgter genutzt wird. Zugleich wird unser Asylrecht nicht angewandt, wenn die Verpflichtung zur Ausreise im Falle eines abgelehnten Antrags auf Asyl nicht vollzogen wird. Das ruiniert den Rechtsstaat. In der Diskussion ist Vieles aus dem Lot geraten.

Jede Seite betont den Aspekt, der für die eigene Klientel am wichtigsten ist. Also redet die Union über die Obergrenze, und SPD und Grüne über den Familiennachzug.

Bei der Obergrenze und diesen Korridoren geht es um sperrige Zahlenkompromisse. Darauf reagiert der Grünen-Chef Robert Habeck, indem er auf Twitter eigene Kinderbilder als Argument für die Familienzusammenführung zeigt. Das ist doch ideologische Realitätsverweigerung. Es geht doch nicht darum, dass Eltern aus dem Nahen Osten jetzt ihre zweijährigen Kinder nachholen können. Es geht um die Frage, dass minderjährige Jugendliche, die als Erste hierhergekommen sind, nun möglicherweise eine ganze Großfamilie nachholen wollen, im Übrigen auch dann, wenn sie rechtlich gar keine Bleibeperspektive haben. So kann man doch keine Diskussion führen, erst recht nicht zu einem Thema von dieser Dimension! Aber sie wird nicht geführt. Sie ist völlig ideologisiert zwischen dem Kampfbegriff der "Obergrenze" auf der einen Seite und Habecks Kulleraugen auf der anderen.

Sie leben und arbeiten seit einigen Monaten in München. Wie hat der Machtkampf in der CSU zwischen Horst Seehofer und Markus Söder aus der Nähe auf Sie gewirkt?

Er hat mir gezeigt, dass es verkürzt ist, immer von "der Union" zu reden. Die politische Kultur zwischen CDU und CSU ist sehr unterschiedlich, gerade im Umgang mit dem Führungspersonal. In der Geschichte der CDU gab es nur drei Politiker mit Killerinstinkt, nämlich Konrad Adenauer, Helmut Kohl und Angela Merkel. In der CSU-Spitze gibt es mindestens drei Killer gleichzeitig, die sich gegenseitig belauern. Diese Härte irritiert viele, aber sie hat Vorteile. Ich war einmal zur Klausur in Kreuth eingeladen und muss sagen, dass ich eine solch offene Diskussionen wie dort in der CDU selten erlebt habe. In der CSU gibt es noch das, was einst die Stärke der Volksparteien war, nämlich eine Opposition in sich selbst. Und das belebt.

Der designierte Ministerpräsident Söder hat es jüngst in der Zeit als "große Aufgabe" bezeichnet, die "Schutzfunktion des Staates wieder zu etablieren". Ist das moderner Konservativismus?

Ein Politiker muss immer griffige Formulierungen verwenden, gerade kurz vor der Landtagswahl. Die Schutzfunktion des Staates wiederherzustellen, ist in Bezug auf den Rechtsstaat natürlich richtig. Und sie ist auch nötig, was die Digitalisierung angeht. Die große Aufgabe des 19. Jahrhunderts war es, die ungebändigte Industrialisierung durch Sozialstaat und soziale Marktwirtschaft zu zähmen. Damals hat man den Unternehmern auch sagen müssen, dass sie ihre Angestellten nur bis zu einer bestimmten Zahl von Stunden pro Tag in ihren Fabriken oder Minen arbeiten lassen dürfen. Heute müssen wir die Digitalisierung in sozialverträgliche Formen überführen und auch dazu braucht es wieder den Staat. Wir müssen aber auch das Verhältnis zwischen Bürgern und Staat und die Frage der Selbstverantwortung neu diskutieren. Diese Debatte vermisse ich sehr.

Sie spitzen gerne zu und sind in Debatten sehr präsent. Allerdings erlebt man - und nicht nur in den sozialen Netzwerken - eine Verrohung des Tons. Sollte im Internet mehr eingeschritten werden und gibt es Limits für das, was gesagt werden darf?

Ich bin überzeugt, dass Timothy Garton Ash recht hat mit seiner Forderung nach einer "robusten Zivilität". Ich bin kein Freund davon, sich permanent beleidigt zu fühlen. Es gibt eine eigentümliche Spaltung in Deutschland: Wir haben diese Konsenskultur in der Politik und gleichzeitig die wachsende Polarisierung, die sich durch die sozialen Netzwerke immer weiter verstärkt. Die politische Debatte sollte breiter werden, als sie heute ist; wenn mehr sagbar ist, hilft das auch gegen den Rechtspopulismus. Die Grenze würde ich dort ziehen, wo die Menschenwürde betroffen ist und es zu persönlichen Beleidigungen, völkischem Denken und der Herabsetzung anderer Menschen kommt. In diesen Fällen muss auch sanktioniert werden.

Sie haben in Ihrem Buch "21.0" auf knapp 400 Seiten eindrucksvoll gezeigt, dass Prognosen meistens falsch sind und sich die Menschen an technologischen Wandel gut anpassen können. Sind wir Deutsche zu ängstlich und risikoscheu?

Ich glaube, das ist ein Erbe der deutschen Tendenz zur Unbedingtheit, die es schwermacht, die Dinge wieder zu korrigieren. Dabei ist Umkehrbarkeit ein so wichtiges Prinzip, gerade heute. Da sind die Amerikaner sehr viel lockerer. Wenn es nicht funktioniert, dann fällt ihnen etwas anderes ein nach dem Motto: "Fail again, fail better".

Scheitern ist also okay, solange man seine Lehren daraus zieht. Sie plädieren ja oft für eine gelassene Offenheit gegenüber technischen Neuerungen.

Das fällt uns Deutschen wirklich schwer. Wir haben eine Tradition, uns als moralisierende Kulturnation aufzufassen. Denken Sie an die "Betrachtungen eines Unpolitischen" von Thomas Mann, in denen es um "deutsche Kultur gegen die westliche Zivilisation" geht oder an die Rede von den deutschen Tugenden von Kaiser Wilhelm II. Die gleiche Haltung spiegelt sich eins zu eins in der deutschen Flüchtlingspolitik im Herbst 2015. Natürlich sind die deutschen Tugenden nun nicht mehr Tapferkeit, Opferbereitschaft, Disziplin und Unterordnung wie zu Kaisers Zeiten. Aber die Form der Willkommenskultur und des deutschem Humanitarismus haben die anderen Europäer als ähnlich hegemonial erlebt wie das deutsche Selbstverständnis als überlegenes Kulturvolk vor 1914.

Gerade in der CSU wird vor der Landtagswahl diskutiert, wie man mit der AfD umgehen soll. Was empfiehlt der Historiker für den Umgang mit neuen Parteien?

Die Themen aufnehmen, ohne der AfD nach dem Mund zu reden. Wir müssen offen und offensiv diskutieren. Ich habe gerade eine Doktorarbeit begutachtet, in der es um die Integration der PDS in das politische System der Bundesrepublik der Neunziger geht. Wenn Sie das lesen und an die Geschichte der Grünen denken, dann sehen Sie, dass es trotz der Abgrenzungsstrategien der etablierten Parteien immer den Zwang gab, letztendlich mit den Neulingen zu sprechen. Als Zeithistoriker kann man entspannt sagen: "Offensichtlich gehören die Rituale dazu, aber sie werden am Schluss nichts nützen". Ich warne auch davor, die Anhänger der AfD zu beschimpfen. Dieses Wählerbashing ist falsch und dumm.

Weil dies der AfD hilft, sich als Opfer zu inszenieren?

Genau, der Erfolg dieser AfD ist das Symptom einer Repräsentationskrise. Es sind ja nicht nur Nichtwähler, die der Partei ihre Stimmen geben, sondern auch ehemalige Wähler von SPD, Union und der Linken. Es bringt nichts, die als Aussätzige anzusehen. Natürlich gibt es bei der AfD eine Form von Nationalismus, die ich mit unserer demokratischen Ordnung für unvereinbar halte. Es ist aber trotzdem falsch, wie der Präsident von Eintracht Frankfurt zu sagen: "Wer AfD wählt, kann nicht Mitglied der Eintracht sein." Das halte ich schon fast für verfassungswidirg.

Gibt es in Europa einen konservativen Politiker, den Sie gerne nach Deutschland importieren würden, um die Debatte wie von Ihnen gefordert voranzubringen?

Sebastian Kurz, den neuen österreichischen Bundeskanzler.

Warum?

Ich habe Kurz als einen klugen, reflektierten und unkonventionellen Konservativen erlebt, der gute Argumente hat. Und ob ich mit ihm in allem einer Meinung bin oder nicht, das ist zweitrangig demgegenüber, dass er für einen lebendigen Konservatismus steht. Aber leider hat ihm die deutsche Medienöffentlichkeit schon ihren Stempel aufgedrückt, ohne ihm eine echte Chance zu geben.

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