Historiker Robert Gerwarth:"Der Erste Weltkrieg allein erklärt relativ wenig"

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Wie genau bestärkt die Verlierer-Erfahrung die Gewalt?

Wenn wir uns jetzt mal den deutschen Fall angucken: Nach der Niederlage Russlands herrscht bei den militärischen Eliten und in breiten Bevölkerungsschichten große Siegeszuversicht. Die steht in einem krassen Gegensatz zur plötzlichen Niederlage vom Herbst 1918. Das befördert nationalistische Legendenbildungen. Die neu entstehende Republik ist dadurch in Teilen der Bevölkerung von Anfang an unverschuldet delegitimiert.

Sie zählen das besiegte Deutschland auch zu den betroffenen Staaten?

Es sind ähnliche Mechanismen, die hier wirken, allerdings in abgeschwächter Form. Viele Verliererstaaten brechen am Ende des Krieges zusammen, die meisten vollständiger als Deutschland, denken Sie etwa an das Osmanische Reich oder die Habsburgermonarchie. Auch in Deutschland, wie in weiten Teilen Mittel- und Osteuropas kommt es 1918/19 zu Revolutionen und Gegenrevolutionen, die zu einem teilweise latenten, teilweise auch offenen Bürgerkrieg führen.

Robert Gerwarth

Professor Robert Gerwarth, geboren 1976, lehrt und forscht am University College in Dublin und ist Gründungsdirektor des dortigen Zentrums für Kriegsstudien. Gerwarth hat unter anderem ein Buch über den Bismarck-Mythos und eine Biografie über Reinhard Heydrich geschrieben.

(Foto: ; oH)

Die Vorstellung, dass ungelöste Konflikte des Ersten Weltkriegs im Zweiten neu aufbrechen, ist ja nicht neu. Was unterscheidet Ihre Deutung von der bisherigen?

Das Brisanteste an meiner These ist, dass ich sage: Der Erste Weltkrieg allein erklärt relativ wenig, gerade über den weiteren Verlauf der deutschen Geschichte. Die klassische Sicht ist, dass durch Gewalterfahrungen im Ersten Weltkrieg bestimmte Mentalitäten geprägt werden, die dann auch den Weg ebnen für totalitäre Regime, die sogenannte Brutalisierungsthese des Historikers George Mosse.

So sehen Sie das nicht?

Nein, zumindest nicht so einfach. Wenn wir uns Europa fünfzehn Jahre nach dem Weltkrieg angucken, ist auffällig, dass totalitäre Regime vor allem in den Verliererstaaten von 1918 entstanden sind. Und in Italien, wo Mussolini und andere postulieren, man habe den Krieg gewonnen, aber den Frieden verloren. Ich argumentiere, dass die Wurzeln des Faschismus und auch des Zweiten Weltkriegs sehr viel stärker im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs und in den unmittelbaren Nachkriegsjahren zu finden sind als zwischen 1914 und 1917.

In Russland siegen mit der Oktoberrevolution 1917 die Bolschewiki. Welche Rolle spielt ihr Triumph für die Gewalteskalation in dieser Zeit?

Eine ganz zentrale Rolle - und zwar über Russland hinaus. Der Bolschewismus injiziert eine neue ideologische Komponente und eine Menge Energien in einen kriegsmüden Kontinent. Bestimmte Gesellschaftsgruppen, die sich nach radikalem Wandel sehnen, werden inspiriert von den Ereignissen in Russland. Auf der anderen Seite mobilisiert der Putsch Lenins gegenrevolutionäre Kräfte, für die die potenzielle Ausweitung der Geschehnisse in Russland auf ihr eigenes Land eine Horrorvorstellung sind.

Am Ende des Ersten Weltkriegs zerfallen jahrhundertealte Großreiche wie die Habsburgermonarchie. Warum führt das zu Gewaltexzessen?

Die Nationalstaaten, die 1918/19 in den imperialen Trümmern gegründet werden, die wollen vom Anspruch her monoethnisch und monoreligiös sein. Sie sind natürlich das genaue Gegenteil. Von ihrer ethnischen Komposition her sind sie genauso divers wie die imperialen Vorgängerstaaten. Sie bringen aber nicht die gleiche Erfahrung mit, Unterschiede zu managen. Es kommt zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, zu Vertreibungen, und zu Hunderten von Pogromen gegen Juden, vor allem in der Ukraine aber auch andernorts in Osteuropa.

Das ist ja ein weiterer zentraler Punkt: Gewalt richtet sich damals immer mehr gegen Zivilisten.

Ein großer Unterschied zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg liegt darin, dass zwischen 1939 und 1945 sehr viel mehr Zivilisten ums Leben kommen als Soldaten. Die meisten Zivilisten, die im Ersten Weltkrieg sterben, sind eher "Kollateralschäden" als bewusstes Ziel militärischer Angriffe - ein Sonderfall ist allerdings der Genozid an den Armeniern. In den Nachkriegskonflikten erscheint es dann völlig legitim, gegnerische Zivilisten zu ermorden.

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