Zweiter Weltkrieg in der Ukraine:Die Wahl zwischen Böse und Böse

Deutsche Soldaten mit einer Bäuerin hinter der Ostfront, 1941 Zweiter Weltkrieg

Eine ukrainische Bäuerin verteilt Essen an deutsche Soldaten hinter der Ostfront 1941.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Im kollektiven Gedächtnis der Ukraine ist Stalin viel präsenter als Hitler. Der Blick auf die Deutschen ist erstaunlich milde - über die von Ukrainern begangenen Verbrechen spricht man lieber nicht.

Reportage von Detlef Esslinger, Lemberg

Der Zweite Weltkrieg ist in der Wahrnehmung der meisten Deutschen so verlaufen: Zuerst überfiel Deutschland Polen, danach viele andere Länder und schließlich die Sowjetunion, also Russland.

Die Wende begann in Stalingrad. Nun drängte die Rote Armee, also ebenfalls Russland, die Wehrmacht zurück, bis zur Kapitulation im Mai 1945. Punkt. Aus. Deutsche Teilung.

Die Wirklichkeit war etwas komplizierter - und ist es immer noch. Um eine Ahnung davon zu bekommen, muss man nur mit Olga Metenko sprechen, 65 Jahre alt, also erst sechs Jahre nach dem Krieg zur Welt gekommen. Sie ist pensionierte Kindergärtnerin, sie sitzt in Lemberg in ihrer Küche, sie sagt einen Satz, den man als Deutscher nicht unbedingt erwartet hat: "Mir persönlich hat der Hitler nichts getan. Aber wegen Stalin ist meine Mutter deportiert worden."

Stalin und die Sowjetunion wirken fort

Ukrainische Bauern suchen in einem zerschossenen Gebäude nach Verwertbarem

Als die Wehrmacht 1941 in der Ukraine einfiel, brannten die Dörfer, wie hier bei Berditschew.

(Foto: Arthur Grimm/bpk)

Man kann zudem Wolodomir Pawliw zuhören, 52, ebenfalls in Lemberg; er ist Politologe und Dozent für Journalismus an der Katholischen Universität dort. Pawliw hält ebenfalls einen Vergleich zwischen Hitler und Stalin bereit.

Bevor Lemberg unter deutsche Besatzung geriet, hatte die Stadt knapp 330 000 Einwohner. Als die Rote Armee sie nach drei Jahren zurückeroberte, lebten davon noch 149 000. Pawliw nennt nicht die Zahlen. Aber er sagt: "Die Toten konnte eine Nation überstehen", Hitlers Verbrechen meint er damit. "Aber nicht, dass ihr die Strukturen genommen wurden, wie Stalin es tat."

Es konnte einem also allen Ernstes Schlimmeres passieren, als von Hitlerdeutschland überfallen, besetzt und ermordet zu werden? 75 Jahre nach dem "Unternehmen Barbarossa" kann man eine Reise in den Westen der Ukraine als eine Reise in die Vergangenheit antreten wollen.

Aber jeder Gesprächspartner wird dafür sorgen, dass man soweit wie irgendmöglich in der Gegenwart bleibt. Hitler ist nicht so sehr das Thema der Leute: Die Russen sind es. Hitler ist etwas, das zu lange zurückliegt, um groß Bedeutung zu haben. Stalin und die Sowjetunion hingegen wirken fort.

Die deutschen Truppen erreichten Lemberg, ukrainisch: Lwiw, in den letzten Junitagen 1941. Kampflos, die Rote Armee war geflohen. Viele der polnischen und der ukrainischen Bewohner betrachteten den Einmarsch nicht als Beginn eines Krieges, sondern als Ende der Besetzung durch Moskau. Denn wenn es irgendetwas gab, als das sich die Lemberger ganz gewiss nicht empfanden: als sowjetisch, als russisch.

Lemberg war eine polnisch-ukrainisch-jüdische Stadt im Osten Polens, jenem Gebiet, das erst im September 1939 an die Sowjetunion gefallen war. Stalin hatte es sich auf der Grundlage des geheim gehaltenen Zusatzprotokolls seines Nichtangriffspakts mit Hitler gegriffen.

Die Juden, die ein Drittel der Einwohner stellten, spürten 1941, nach dem deutschen Einmarsch, sofort, dass sie nun mit dem Schlimmsten zu rechnen hatten.

Zweiter Weltkrieg in der Ukraine: Das Grab von Iwan Schmega, der die Deportation nach Sibirien überlebte.

Das Grab von Iwan Schmega, der die Deportation nach Sibirien überlebte.

(Foto: Elena Rokhlenko)

"Die Polen haben weniger Glück gehabt als die Ukrainer"

Ukrainer und manche Polen jedoch empfingen die Deutschen wohlwollend, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. "Die Sowjetmacht hatte durch Verhaftungen, Terror, Deportationen und die beginnende Zwangskollektivierung fast die gesamte Bevölkerung gegen sich aufgebracht", schreibt der Historiker Christoph Mick, der vor sechs Jahren ein 600-Seiten-Buch zur Geschichte Lembergs veröffentlichte.

Die Polen dachten, schlimmer als unter Stalin könne es kaum werden. Viele Ukrainer glaubten, Hitler werde ihnen den eigenen Staat gewähren, auf den sie seit Jahrzehnten hofften.

Kann man, mit dem Abstand von 75 Jahren, sagen, dass sie längst eines Schlechteren belehrt wurden?

Nicht ganz einfach, mit Ukrainern ein Gespräch darüber so zu führen, wie es ein Besucher mit deutscher Nachkriegs-Sozialisation wohl erwarten würde.

Wolodomir Pawliw, der Dozent von der Katholischen Universität, wiegt den Kopf auf die Frage, wie man 1941 vom Besatzer Hitler allen Ernstes anderes erwarten konnte als Verbrechen. "Die Juden und diejenigen Polen und Ukrainer, die nicht loyal zu Deutschland waren - die haben gelitten", sagt er. "Aber die Ukrainer insgesamt hier haben es unter den Deutschen nicht so schlecht gehabt wie in der Sowjetunion."

Die Villen, in denen deutsche Offiziere Quartier nahmen, waren vorwiegend Polen weggenommen worden. Und die 23 Professoren und 17 Mitarbeiter der beiden Universitäten, die von den Nazis bereits in der Nacht zum 4. Juli ermordet wurden: alles Polen.

Der Dozent spricht nicht über Verbrechern der Ukrainer

Zweiter Weltkrieg in der Ukraine: In Lemberg errichteten die Deutschen ein Konzentrationslager, von dem wenig mehr übrig ist als eine Art Eingang.

In Lemberg errichteten die Deutschen ein Konzentrationslager, von dem wenig mehr übrig ist als eine Art Eingang.

(Foto: Elena Rokhlenko)

"Die Ukrainer hatten nie die Wahl zwischen Gut und Böse", sagt Pawliw. "Sie hatten nur die Wahl zwischen Böse und Böse." Das war die Alternative, das ist die Perspektive, aus der er auf die Geschichte seines Landes blickt. Die Ukrainer in Lemberg zogen die Deutschen den Russen vor.

Pawliw spricht nicht über die Halbierung der Einwohnerschaft während der deutschen Besatzung. Er spricht nicht vom Unabhängigkeitskämpfer Stepan Bandera, der zeitweise gegen die Nazis kämpfte (und deshalb ins Konzentrationslager Sachsenhausen kam), zeitweise mit ihnen paktierte.

Er spricht auch nicht von den Pogromen, welche Ukrainer gleich zu Beginn der deutschen Besatzung an den Juden begingen; er erwähnt nicht all die ukrainischen Milizen und Hilfspolizisten, die sich an Terror und Holocaust beteiligten. Schon gar nicht lenkt er das Gespräch auf das ehemalige Ghetto sowie auf das Konzentrationslager Janowski, hier in Lemberg, im Nordwesten der Stadt.

Zehntausende wurden dort ermordet; Simon Wiesenthal gehörte zu jenen, die es überlebten. Und von dem Massaker in der westukrainischen Region Wolhynien spricht er auch nicht. Dort brachte die "Ukrainische Aufstandsarmee" (Ukraïnska Powstanska Armija, UPA) im Frühjahr 1943 etwa 60 000 Polen um.

Über Polen und Ukrainer in der NS-Zeit sagt der Mann nur: "Die Polen haben weniger Glück gehabt als die Ukrainer."

Die Versuchung liegt nahe, einen solchen Gelehrten entweder für einen besonders zynischen Zeitgenossen zu halten - oder zu befürchten, er sei womöglich repräsentativ für ein Volk, das die Welt zwar derzeit mit seiner Gegenwart mehr als beschäftigt, zu seiner Vergangenheit aber kein Verhältnis gefunden hat.

Für letzteres spricht, in welchem Zustand das Janowski-Lager heute ist. Am Eingang noch eine Gedenktafel, mit der Aufforderung: "Passant, beuge dein Haupt!", frische Kränze sowie Eisenplatten mit einem Durchlass.

Den einzig verbliebenen Bau aber findet man rechts dahinter: die Ruine eines Verwaltungshauses. Den Wänden fehlen die Kacheln, den Türrahmen die Türen. Zwei Männer verlassen mit Ziegeln in der Hand das Gelände; Fundstücke von der Wiese, die sie anscheinend gebrauchen können.

Eine Ente gleitet über den Teich, am Ufer vermodern Grillkohle und Weinkartons; Colaflaschen liegen herum. Der Ort scheint besucht zu werden. Aber nicht, um ein Haupt zu beugen.

Übertrieben, zu sagen, dass sich für Janowski jemand zuständig fühlt.

Ein Schuss in den Kopf, dann glaubte er sich im Himmel

Wie es an einem Ort aussieht, an dem sich jemand zuständig fühlt - das kann man drei Stunden südlich von Lemberg sehen, in den Karpaten. Das Dorf Kozakiwka ist der Ort, in dem Olga Metenko, die pensionierte Kindergärtnerin aus Lemberg, ihre Wurzeln hat.

Hier wurde am 10. April 1926 ihr Vater geboren, hier starb er auch, am 18. Juli 2003, nach einem äußerst unwahrscheinlichen Leben. Olga hat Verwandte gebeten, eine Tour zu organisieren.

Mit dem Geländewagen geht es aus dem Ort, vorbei an der Kirche, in der der Vater einst verhaftet wurde, "Kommen Sie mit", sagten damals die Geheimpolizisten. Zehn Stundenkilometer, schneller geht es wegen der Schlaglöcher nicht; nach einer halben Stunde dann zu Fuß durch eine Furt und zehn Minuten den Berg hinauf - und man ist im einstigen Ausbildungslager der UPA, der Partisanen.

Die zwölf Blockhütten aus den 40er-Jahren stehen nicht mehr, aber fünf neue haben sie gebaut, zum Gedenken. Eine Kapelle gibt es, mit Blumen und Ikonen, außerdem einen Mann im Tarnfleck, schwarz-roter UPA-Aufnäher am Ärmel, der gerade nach dem Rechten sieht und zu erzählen weiß: an welcher Stelle die Partisanen Tiere schlachteten; dass es einen Verräter aus Ossetien gab, der Munition in Wasser tauchte; dass Wachen einen Boten erschossen, weil er das Passwort nicht wusste.

Es ist dies kein Ort des Widerstands nur gegen die Deutschen. Die Kämpfer, die hier ausgebildet wurden, kämpften gegen beide: gegen Hitler und später gegen Stalin. Nachdem dieser die Wehrmacht wieder vertrieben hatte, ging der Krieg in der Westukraine noch bis in die Fünfzigerjahre weiter; es war ein Krieg, von dem in Deutschland kaum jemand etwas weiß, in dem jedoch schon bis Ende 1945 etwa 130 000 Menschen zu Tode gekommen waren.

Iwan Schmega, so hieß der Vater von Olga Metenko, schloss sich 1949 der UPA an. Sein Bruder war gefallen, nun wollte er den Kampf gegen die Sowjets fortsetzen. Es war der NKWD, der ihn bereits nach ein paar Wochen aus dem Gottesdienst holte, Stalins Geheimdienst. Die Verhaftung in größtmöglicher Öffentlichkeit gehörte zum Konzept.

Iwans Nachfahren wollen nicht, dass der Besucher aus Deutschland sich unwohl fühlt wegen Hitler und der Geschichte seines Landes. Michajlo Schmega, 65, entfernter Cousin und letzter Nachbar, sagt, Hitler und Stalin seien schuld am Krieg gewesen, nicht die Leute, die sie herschickten.

Die einfachen Soldaten hätten nie eine Chance gehabt, Nein zu sagen, "dein Großvater nicht, und auch unsere Soldaten in Afghanistan nicht". Als die Sowjetunion 1979 dort einmarschierte, waren ja auch ukrainische Soldaten dabei.

Michajlo Schmega zeigt einen deutschen Soldatenfriedhof, ein paar Minuten hinterm Ortsrand. Heute ist der Platz eine Wiese mit einem Zaun drumrum und einer Tafel; aber: immerhin. Die Sowjets hatten Anfang der Fünfziger die Kreuze weggerissen und ein Holzdepot aus dem Gelände gemacht.

Michajlo zeigt auch die Wohnhäuser links und rechts der Straße, vor allem zeigt er auf jene, die vorne noch eine Veranda haben: Die seien alle noch aus der k.u.k.-Zeit, sie gehörten den österreichischen Siedlern - die sie hier aber als Deutsche bezeichnen. "Die Deutschen haben gut gebaut", sagt Michajlo Schmega.

Auch deshalb wollte Hitler die westliche Ukraine haben: Für ihn war die Gegend um Lemberg deutscher Kulturkreis, schon im Jahr 1942 hatte er in der Stadt 156 Straßen und Plätzen deutsche Namen geben lassen.

"Putin wird nie von der Ukraine lassen"

Aber in einem Land, das seit Jahrzehnten um seine Unabhängigkeit ringt und das in der Gegenwart keineswegs von den Deutschen bedroht wird - in einem solchen Land ist Hitler so tot, wie es toter kaum geht. Der Aggressor, das Thema - das ist immer ein anderer. "Putin wird nie von der Ukraine lassen", sagt Michajlo Schmega. "Und wenn Europa ihn nicht stoppt, wird er sich auch Polen greifen."

Als die Rote Armee im Sommer 1944 Lemberg zurückeroberte, war die Einwohnerschaft zwar um mehr als sie Hälfte reduziert, auf 149 000. Die 100 000 Juden waren fast alle ermordet worden, die Polen um 60 000 dezimiert. Von 64 000 Ukrainern überlebten 52 000. Darauf wohl spielte Wolodomir Pawliw an, der Dozent, als er sagte, die Polen hätten weniger Glück gehabt als die Ukrainer.

Was sie im Westen des Landes als das große Unglück empfanden, das war das, was ihnen vor und dann wieder sofort nach der deutschen Besatzung widerfuhr: die Morde an Zehntausenden politischen Gefangenen während der Räumung des Gebiets durch die Rote Armee Ende Juni 1941, all die Deportationen nach Kasachstan, nach Sibirien.

Die Sowjets schickten ja nicht nur Widerstandskämpfer dorthin, sondern auch sehr gern deren Angehörige (während sie nach den Kämpfenden noch suchten), sie beschlagnahmten deren Besitz, und eine spätere Genehmigung zur Rückkehr ging oft mit dem Verbot einher, in den Heimatort zurückzugehen.

So zerschlugen sie die Strukturen, die ein Nationalbewusstsein zum Gedeihen braucht, so erzwangen sie die Vereinigung der russisch geprägten Ostukraine mit der europäisch orientierten Westukraine zur "Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik" und deren Eingliederung in die UdSSR.

Christoph Mick, der Historiker von der englischen Universität Warwick, hält Nachsicht mit den Ukrainern für angemessen: dass sie es nicht schaffen, Mitgefühl für Polen und Juden zu zeigen; dass es ihnen nicht gelingt, sich mit eigener Schuld und Verantwortung auseinanderzusetzen.

Jeder hat mit seinen Tragödien genug zu tun

Die Erfahrungen, die Polen, Juden und Ukrainer mit wechselnden Besatzungsregimes sowie miteinander machten, widersprächen einander, schreibt er in seinem Lemberg-Buch. Bei den Juden sei es für jeden Einzelnen ums pure Überleben gegangen. Polen und Ukrainer hätten zwar auch um ihr Leben gekämpft, aber zusätzlich um Selbstbestimmung. "Diese unterschiedlichen Erfahrungen hatten auch Konsequenzen für die Erinnerungen", schreibt Mick.

Jeder hat mit seinen Tragödien genug zu tun; ganz abgesehen davon, dass in kommunistischer Zeit der Geschichtsunterricht nicht darauf angelegt war, Wunden sichtbar zu machen, die die Brudervölker einander zugefügt hatten.

Olga Metenko hatte in der Schule nie etwas von dem Massaker in Wolhynien gehört, von den 60 000 von Ukrainern ermordeten Polen. "Immer nur Lenin", sagt sie. Sogar in Kindermärchen wurde er eingebaut.

Geschichte gab es nur privat, daheim; Familiengeschichte zumindest. Dass ihr Vater erst 2003 starb, dass sie überhaupt auf der Welt sein und zwei Töchter und drei Enkel haben darf - ein Wunder ist das, gegen alle Wahrscheinlichkeit.

Iwan Schmega wurde am 26. Februar 1949 nach Sibirien deportiert, unterwegs sollte er fliehen. Die Wache schoss und traf ihn am Fuß. Iwan Schmega lag auf dem Boden, als der Schütze zu ihm trat, um ihm den Rest zu geben. Der Schuss traf ihn ins Gesicht.

"Komisch. Im Himmel sieht's ja genau so aus wie auf der Erde: Die Bäume! Das Gras. Oben blau!"

Das was das erste, was Iwan Schmega dachte, als er tatsächlich wieder zu sich kam. Irgendjemand fand ihn, schmiss ihn in einen Güterwaggon, er schaffte es nach Sibirien in die Deportation und lebte noch 54 Jahre lang.

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