Erster Weltkrieg:Die letzten Stunden im Leben des Soldaten Johannes Haas

Wounded soldiers Verdun 1916 Mono Print AUFNAHMEDATUM GESCHÄTZT UnitedArchives1252194

Verwundete Soldaten überqueren in einer Beschusspause ein Feld bei Verdun.

(Foto: imago/United Archives)

Ende 1914 zog der Student in den Krieg, im Juni 1916 fiel er bei Verdun. Kurz vor seinem Tod nahm er in einem Brief Abschied von seinen Eltern.

Von Hubert Wetzel

Ein Tag im Frühsommer, warm und hell. Über Verdun steht hoch die Sonne und trocknet das morastige Gewirr von Gräben und Kratern, das die Anhöhen um die französische Festungsstadt wie Aussatz bedeckt. Irgendwo in diesem von Tausenden Granaten kahlgehackten Gelände kauert Johannes Haas. Er stirbt. Etwas ist ihm in den Bauch geflogen, etwas Heißes, Hartes, Metallenes. Es hat die Uniform zerfetzt und sich in das weiche Gewebe gewühlt. Jetzt rinnt das Blut, das Leben, aus Haas heraus in den Schlamm.

Vielleicht war es so: Johannes Haas, 24 Jahre alt, Unteroffizier in einem preußischen Infanterieregiment, ahnt, dass er den Tag nicht überleben wird. Niemand kann ihm helfen. Um ihn herum liegen Tote und Sterbende. Aus einer Tasche nimmt er ein Stück Papier und einen Stift.

Er schreibt: "1. Juni 1916".

Er schreibt: "Liebe Eltern!"

Er schreibt: "Ich liege auf dem Schlachtfeld mit Bauchschuß. Ich glaube, ich muß sterben."

Kurz darauf ist Johannes Haas tot, gefallen vor Verdun am Himmelfahrtstag des Jahres 1916 in einem zerschossenen Wäldchen namens Bois de la Caillette.

Viel ist nicht geblieben von Johannes Haas, außer etwas vergilbtem Papier. Mitte Juni 1916 meldete sein Heimatblatt, die Preetzer Zeitung: "Am 1. Juni fiel bei einem Sturmangriff im Westen der Unteroffizier Johannes Haas, cand. theol., Sohn des Lehrers Haas." Am 5. Juli 1916 gab die deutsche Armee Haas' Tod in der Verlustliste bekannt. Man findet seinen Namen auch noch in den Archiven einiger Universitäten. Die Christian-Albrechts-Universität in Kiel gedachte Ende 1919 ihrer Gefallenen, in einer Broschüre ist auch Haas aufgeführt.

Und es sind Feldpostbriefe von Haas überliefert, etwa 20, darunter jener letzte aus Verdun an seine Eltern. Es ist wohl der einzige bekannte Abschiedsbrief dieser Art von der Westfront. Die Originalbriefe sind verschollen, doch es gibt handschriftliche Kopien, die nach dem Krieg angefertigt wurden und heute im Deutschen Literaturarchiv in Marbach liegen. Einige von Haas' Briefen wurden zudem 1928 in dem Buch "Kriegsbriefe gefallener Studenten" veröffentlicht. Manche sind etliche Seiten lang, manche nur wenige Zeilen. Sie erzählen die Geschichte eines jungen Mannes, der in den Krieg zog, weil er glaubte, Volk und Vaterland verteidigen zu müssen; und der einsam im Dreck verblutete.

Die Brüder Haas wachsen mit Bach-Kantaten, dem Vaterunser und der Bibel auf

Johannes Haas wird am 12. März 1892 in Erfde geboren, einem kleinen Ort in Schleswig-Holstein. Im Jahr darauf zieht die Familie nach Preetz, wo der Vater, Peter Haas, eine Stelle als Lehrer bekommen hat. Dort kommt auch Haas' Bruder Konrad zur Welt. Peter Haas ist ein gläubiger Mann, er spielt Orgel in einer Kirchengemeinde. Die Brüder wachsen mit Bach-Kantaten, dem Vaterunser und der Bibel auf. Später, als um ihn herum der Tod haust, sucht Johannes Haas oft Halt in der Passionsgeschichte - Jesus, verlassen und verängstigt am Ölberg: "Man ist so jung, zu sterben, allein, fern von allem, was lieb ist", schreibt Haas im Juli 1915. "Aber wie Gott will: ,Nicht mein, sondern dein Wille geschehe!'"

Nach der Schule beginnt Haas, evangelische Theologie zu studieren. Er will Pastor werden. Aber er kommt nicht recht voran, in einem Brief erwähnt er später einen "Winter des Suchens und Zweifelns". Mehrmals wechselt Haas die Universität, er geht nach Berlin, Kiel, Rostock, zuletzt Leipzig. Dort schreibt er sich im Mai 1914 ein und bezahlt 87 Mark Semestergebühr. Er hört Vorlesungen - Dogmatik, Christliche Ethik, Geschichte und Altertumskunde Kanaans und Israels. Im August beginnt der Krieg.

Während viele Studenten gleich bei Ausbruch des Kriegs begeistert in die Kasernen stürzen, zögert Haas zunächst. Anfang November verlässt er die Universität Leipzig. Die ersten Freiwilligen sind da schon an der Front; in Flandern werden sie ins Feuer gejagt, Tausende fallen. Für das Sommersemester 1915 ist Haas wieder in Kiel immatrikuliert. Aber er studiert dort nicht mehr, in den Universitätsunterlagen ist vermerkt, dass er bereits Militärdienst leistet. Wahrscheinlich meldet sich Haas irgendwann Ende 1914 doch noch freiwillig. Auch sein Bruder Konrad geht zur Armee.

"Warum machen sie nicht endlich Frieden?"

Der früheste, erhaltene Feldpostbrief von Haas stammt vom 24. März 1915. Der junge Soldat dient im Reserve-Infanterieregiment Nr. 66, das in Nordfrankreich im Grabenkrieg feststeckt. Er erzählt wenig von den Gefechten, nur einmal erwähnt er Gefallene. Am 10. Juli schreibt er: "Freund Rucks liegt da gleich vornean in dem Grab mit 24 Kameraden, ein schlichtes Kreuz darauf. Jäger tot, begraben irgendwo auf einem Lazarettfriedhof von Fremden."

Haas zieht nicht leichtfertig in den Krieg. Er ist hin- und hergerissen zwischen seinem christlichen Gewissen und der Überzeugung, seinem Land an der Front dienen zu müssen - "zwischen dem jedem innewohnenden ,Du sollst nicht töten' und dem heiligen ,Es muss sein fürs Vaterland'".

Der Krieg - "dieses Morden" - stößt ihn ab, aber er schwärmt von Kameradschaft und Pflichterfüllung. Einem Freund schreibt er im April 1915: "Es ist etwas Großes, in diesem Weltenbrand ein Mitwirkender zu sein." Ein halbes Jahr später bricht Widerwille, fast schon Ekel aus ihm heraus: "Was haben wir eigentlich alle verbrochen, dass wir hier schlimmer als Tiere herumgehetzt werden, frieren, verlausen, mit zerlumptem Zeug laufen und zum Schluss umgebracht werden wie Ungeziefer! Warum machen sie nicht endlich Frieden?"

Je länger Johannes Haas an der Front ist, desto mehr fallen seine alten Gewissheiten in Trümmer, sein Glaube an die Kirche, den Staat, die Armee. "Es ist etwas Anderes, ob du unter krachenden Granaten oder auf der Kanzel im Talar zu denken hast ,über Krieg und Gott'", schreibt er einmal. Er weiß, dass der Krieg auch daheim alles umstürzen wird. Fast bis zum Schluss klammert er sich an Volk und Vaterland, um die Opfer zu rechtfertigen. Am Ende aber, als es ans Sterben geht, ist nur noch sein Glaube an Gott übrig.

"1½ Löffel Abfallmarmelade und 14 Stück Zucker zu Weihnachten"

Am 25. September 1915 greifen Franzosen und Briten die deutschen Stellungen im Artois und in der Champagne an. Am ersten Tag der Offensive fällt Konrad Haas bei Arras. Johannes erfährt davon durch die Eltern. Erschüttert schreibt er ihnen am 3. Oktober 1915 zurück: "War das aber ein bitterer Sonntagmorgen-Gruß! Hungrig und verfroren kam ich vom Vorposten. Freudig durchzuckte es mich: ein Brief von Mutter! Und dann das. Mein lieber, kleiner Konrad." Trost oder Hoffnung kann er den Eltern nicht geben: "Wir können nicht wissen, ob es mich auch noch trifft. Laßt uns uns recht bereiten: Nicht mein, sondern dein Wille geschehe." Einige Tage später marschiert das Regiment von Haas in den Malstrom der Champagne-Schlacht.

Danach werden Haas' Briefe härter. Voller Zorn klagt er über Offiziere, die ihre Soldaten im Stich lassen, sich vor dem Schützengraben drücken, aber daheim mit dem Eisernen Kreuz angeben. Die Offiziere saufen Sekt, "wir kommen im Dreck um und erhalten 1½ Löffel Abfallmarmelade und 14 Stück Zucker zu Weihnachten".

Und es ist, als schließe Johannes Haas nach dem Tod des Bruders auch mit seinem Leben ab; nicht wütend oder traurig, eher gelassen. Im April 1916 schreibt er: "Ich könnte jetzt jubelnd in den Tod gehen. Lange dauert es hier kaum mehr; ich habe fast eine Sehnsucht, dass es in den schlimmsten Ernst geht, in die Nähe Gottes!"; ein paar Tage später: "Übermorgen geht's wieder an die Front. Laß gut sein: Das Leben ist es wert, dass man's erkämpft und aufs Spiel setzt." Ende Mai 1916 wird Haas' Regiment nach Verdun verlegt.

Blutpumpe, Knochenmühle, Hölle - Verdun hat viele Namen

Verdun. Ein Städtchen an der Maas, umringt von Festungsanlagen und Bunkern, von Hügeln, Wäldern und Schluchten, die gespenstische Namen tragen: Toter Mann, Kalte Erde, Falsche Rippe, Wolfsgrund, Todesschlucht. Seit Februar 1916 frisst die Schlacht um Verdun deutsche und französische Regimenter. Zehntausende sterben in den Trichterfeldern, Kompanien gehen mit 200 frischen Männern ins Gefecht und kehren mit 20 zitternden Überlebenden zurück. Blutpumpe, so wird Verdun genannt, Knochenmühle, Hölle.

Am östlichen Maas-Ufer, zwischen den Festungen Douaumont und Vaux liegt der Caillette-Wald, eine von Schluchten eingefasste Anhöhe. La Caillette - das ist der Labmagen einer Kuh. Bäume stehen hier im Sommer 1916 nicht mehr. Die Erde ist zerwühlt vom Trommelfeuer. Bis heute ist der Boden dort durch diese Gewalt geformt, er ist bucklig, als habe er gebrodelt und sei dann erstarrt. Diese verheerte Kuppe, auf der sich die Franzosen festgekrallt haben, soll das Regiment von Haas erobern.

Schon der Marsch an die Front, geschildert in der 1939 erschienenen Regimentsgeschichte, ist furchtbar. Die Soldaten stolpern durch das zerpflügte Gelände. Überall liegen Tote. Am 29. Mai rücken die Männer nachts in ihre Stellungen im Caillette-Wald und der nordöstlich gelegenen Kasematten-Schlucht ein. Statt Pickelhauben tragen sie zum ersten Mal die neuen Stahlhelme. Am 1. Juni sollen sie angreifen.

"Es wird nun Ernst", schreibt Haas

Der Tag vor dem Sturm muss grauenvoll gewesen sein. Haas schreibt seinen vorletzten Brief: "Vor Verdun. 31. Mai 1916. Meine lieben guten alten Eltern! Hier ist Krieg, Krieg in seiner allerschrecklichsten Form - und Gottesnähe in höchster Spannung."

Die 12. Kompanie des Regiments, zu der Haas gehört, liegt als Teil der Reserve in der Kasematten-Schlucht. Vier- bis fünftausend Mann drängen sich in dem kleinen Tal zusammen. Am Südhang sieht man noch die Reste der elenden Deckungslöcher, in denen die Soldaten Schutz gesucht haben. Es regnet, viele Männer leiden an Durchfall, es gibt kaum Essen. Die Leichen, die allerorts verrotten, verderben den Soldaten ohnehin den Hunger. "Es wird nun Ernst", schreibt Haas.

Während er diese Zeilen schreibt, werden um ihn herum Dutzende Kameraden getötet und verwundet. Die französische Artillerie feuert heftig. Noch schlimmer ist: Die Rohre einiger deutscher Geschütze sind so ausgeleiert, dass ihre Granaten in die Kasematten-Schlucht streuen und zwischen den eigenen Truppen explodieren. Den ganzen Tag geht das so, die Männer sind verzweifelt. Haas hockt in dem grausigen Gewühl, bereit zu sterben. "O, ich denke viel ans Jenseits, mit Freude", schreibt er. "Vor dem Gericht bangt mir nicht. Es muss doch schön sein, Gott zu schauen."

"Dank Euch, Ihr lieben Eltern! Gott befohlen"

Am Morgen des 1. Juni beginnt der Angriff mit einem Inferno. Die deutsche Artillerie hämmert auf die französischen Stellungen, und wieder hauen Fehlschüsse zwischen die eigenen Soldaten. "Wie wahnsinnig" schreien die Männer, die Kasematten-Schlucht gleicht einem "Irrenhaus", berichtet später ein Pionieroffizier, den der Historiker Olaf Jessen in seinem Buch "Verdun 1916" zitiert. Dann greifen die Deutschen an. Flammenwerfer tauchen die vordersten feindlichen Gräben in Feuer und Glut, die Franzosen brüllen vor Angst.

In den Augenzeugenberichten, die es vom Kampf um den Caillette-Wald gibt, ist viel von Heldenmut und Heldentod die Rede. "Schon klettern die Feldgrauen aus ihren Gräben, stürzen todtrotzend vor!", heißt es in der Regimentsgeschichte. Ein Stabsoffizier, der den Angriff am Scherenfernrohr mitmacht, schwärmt nach dem Krieg von "beherzten" Attacken.

Wahr ist an diesen Berichten: Es wird viel getötet und viel gestorben an jenem Himmelfahrtstag. Viele Verteidiger haben den Feuerregen überlebt, sie wehren sich erbittert, die Angreifer laufen in schweres Maschinengewehrfeuer. Es wird ein Gemetzel mit Handgranaten und Bajonetten. Einige Stunden tobt der Nahkampf, dann entreißen die Deutschen den Franzosen die Anhöhe; sie stürmen weiter, den Hang hinab in die nächste Schlucht und wieder hinauf in den nächsten zertrümmerten Wald. Gut 2000 Franzosen werden gefangen genommen.

Erster Weltkrieg: SZ-Karte: Al Mohtasib

SZ-Karte: Al Mohtasib

Doch der Blutzoll ist hoch. Als der Kampflärm abebbt, hören die Soldaten die Schreie der Verwundeten. Sie blicken zurück auf ein Schlachtfeld voller Toter. Bei dem Sturmangriff sterben 90 Soldaten von Haas' Regiment, Hunderte werden verwundet. Insgesamt verliert das Regiment in den ersten fünf Junitagen vor Verdun fast ein Drittel seiner Männer.

Wann und wo genau Johannes Haas am 1. Juni fällt, lässt sich nicht mehr feststellen. Seine Kompanie ist an dem morgendlichen ersten Angriff nicht beteiligt, erst später am Vormittag wird sie zur Verstärkung aus der Kasematten-Schlucht auf die Anhöhe in den Kampf geschickt. Irgendwo dort trifft etwas Haas in den Bauch; es kann eine französische Kugel sein, ebenso aber auch der Splitter einer deutschen Granate. Die Verwundung ist ein Todesurteil. Während des Gefechts ist es fast unmöglich, Verwundete zu bergen; erst am nächsten Tag kommen Sanitäter nach vorne durch.

Wie der Abschiedsbrief zu den Eltern gelangt, weiß man nicht

Vielleicht war es so: Johannes Haas ist noch bei Sinnen, aber er spürt, dass es nicht mehr lange dauern wird. Er ist gefasst.

Er schreibt: "Bin froh, noch einige Zeit zu haben, mich auf die himmlische Heimkehr vorzubereiten."

Er schreibt: "Dank Euch, Ihr lieben Eltern! Gott befohlen."

Er schreibt: "Hans".

Wenn Haas Glück hatte, waren einige Kameraden bei ihm, die ihn notdürftig verbunden haben und denen er seine letzte Nachricht zustecken konnte; vielleicht ist er auch alleine gestorben, und der Brief wurde später bei dem Toten gefunden. Wie Haas' Abschiedsbrief zu den Eltern nach Preetz gelangt, weiß man nicht. Am 14. Juni teilt Peter Haas der Universität Kiel mit, dass "mein lieber Sohn Johannes im Westen fürs Vaterland gefallen ist".

Im Caillette-Wald und der Kasematten-Schlucht wachsen längst wieder Bäume. An einem Sommertag ist es dort heute schattig und still. Im Laub aber liegen noch rostige Splitter und Drahtstücke, vergammelte Karabinerpatronen und die Reste einer deutsche Granate. Die Franzosen nannten sie "Turteltaube". Sie kam mit einem Gurren geflogen und brachte den Tod.

Wo Johannes Haas seine letzte Ruhe gefunden hat, ist unbekannt. Es gibt kein Grab, kein Kreuz mit seinem Namen. Vielleicht wurden seine Knochen in den folgenden Gefechten zu Nichts zerstampft. Oder sie wurden nach dem Krieg eingesammelt und in das gewaltige Beinhaus geschafft, das nicht weit vom Fort de Douaumont über dem Schlachtfeld aufragt. Vielleicht liegen sie immer noch im vernarbten Waldboden von Verdun.

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